Aufgabe eins: Denken Sie zehn Minuten lang an eine Strafvollzugsanstalt. Welche Begriffe fallen Ihnen dazu ein? Entwerfen Sie anschließend ein spektakuläres Fitnesscenter.
Klingt erstmal irritierend, auch für die neun Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kreativseminars. Irritierte Blicke wandern durch den Raum: Was hat eine Strafvollzugsanstalt mit einem Fitnesscenter zu tun? Im ersten Moment nichts, im zweiten auch nicht wirklich viel. Die Aufgabe entstammt einer Kreativtechnik namens „Klassentreffen“: Verschiedene Branchen tauschen dabei Wissen aus, um eine Idee oder ein Produkt weiterzuentwickeln. Die zentralen Fragen ähneln dabei einem Treffen mit alten Schulkameraden: Was macht die Branche, wie hat sie sich entwickelt, was kann man von ihr lernen?
Seit zehn Jahren gibt Peter Pakulat Kreativitätsseminare wie dieses. Normalerweise wird er von Firmen gebucht, er macht Gedankenspiele mit deren Mitarbeitern und versucht so, kreative Prozesse in Gang zu bringen. Die Nachfrage sei in den vergangenen Jahren gestiegen. „Unternehmen merken, dass Innovationskraft immer wichtiger wird“, sagt Pakulat. Und die basiert nicht nur auf der fachlichen, sondern auch auf der kreativen Kompetenz der Mitarbeiter. Eine Studie des Bundesverbands Digitale Wirtschaft bestätigt das: 87 Prozent der Unternehmen gaben an, dass Innovation zentral für den Erfolg des Unternehmens sei. Im Weg stehen vielen von ihnen jedoch Zeitmangel und finanzielle Engpässe, aber auch fehlende Offenheit im Unternehmen.
Auch die sechs Frauen und drei Männer sind heute in Peter Pakulats Seminar gekommen, um sich Inspiration für den beruflichen Alltag zu holen. Sie kommen aus der energiewirtschaftlichen Forschung, dem Hochschul- oder dem Personalbereich. „Je mehr ich im Alltagsdenken versinke, desto enger wird mein eigener Horizont“, sagt eine Teilnehmerin. Alltag und Routine aber sind der Tod des kreativen Denkens, das weiß Trainer Pakulat. Zwar ist das Gehirn kein Muskel, seine Leistungsfähigkeit aber steigt, je mehr wir es benutzen – auch abseits der bekannten Denkmuster.
Neue Wege gehen
Pakulat versucht seine Teilnehmer daher zu motivieren, Veränderung aktiv anzuregen und die eigenen Erfahrungen immer wieder zu hinterfragen. Denn jede Abweichung vom Normalen ist ein Schritt zu mehr Kreativität. „Wenn Sie etwas Neues ausprobieren, dann werden im Gehirn Zellen neu miteinander verknüpft“, erklärt der Trainer. Theoretisch habe jede unserer Gehirnzellen 200 000 Nachbarn – die Verknüpfungsmöglichkeiten sind quasi unerschöpflich.
Neues auszuprobieren bedeutet dabei nicht gleich, an einem Gummiseil von einer Brücke zu springen. Das beginnt schon im alltäglichen Handeln. In China wurden ältere Menschen dabei beobachtet, wie sie rückwärts durch den Park laufen. „Durchbrechen Sie Ihre Routinen. Nehmen Sie einen anderen Weg zur Arbeit“, rät der Trainer gleich zu Beginn seiner Workshops.
„Grundsätzlich bedeutet kreativ sein, eine neue Antwort auf ein Problem zu finden. Wenn Sie so wollen, ist schon jedes Kind kreativ, denn es kennt die bestehenden Antworten nicht“, sagt Julia Frohne, Professorin für Wirtschaftspsychologie und Marketing an der International School of Management in Dortmund. Definiert man Kreativität im Sinne dieses Lösungsansatzes, ist sie dem Menschen angeboren und wird nicht nur in künstlerischen Prozessen benötigt. „Kreativität braucht man in jedem Beruf und jedem Unternehmensbereich. Besonders eintönige, monotone Tätigkeiten können durch neue Ideen verbessert werden“, sagt Frohne.
Kreativität bedeutet auch Struktur
Tipps und Tricks, seine Gedanken umzulenken, gibt es zuhauf. Peter Pakulat hat dafür verschiedene Techniken im Gepäck. Sie kommen aus der Kognitions- und der Verhaltensforschung und unterteilen sich in fünf Bereiche: von der Ideenfindung über die Ideenveredlung und die Präsentation der Ideen bis hin zur Bewertung und zur Prozessanalyse. Die Methoden sind systematischer und oft assoziativer Natur und sind meist für Gruppen konzipiert. Es gibt aber auch einige wissenschaftliche Erkenntnisse, die dem Einzelnen helfen können. Sie widerlegen dabei so manches Stereotyp des kreativ Schaffenden.
So gilt gerade in der Kunst der Mythos der Melancholie und des Leids als Quelle der Kreativität bis heute. Der Sozialpsychologe Jens Förster von der Jacobs-Universität Bremen aber fand heraus, dass der Gedanke an liebe Menschen dazu verhilft, Dinge miteinander zu verknüpfen, die auf den ersten Blick keine Verbindung aufweisen. In einem Interview mit Zeit Online wies der Psychiater Rainer Holm-Hadulla zudem darauf hin, dass ein gewisses Maß an emotionaler Stabilität sogar notwendig ist für die kreative Tätigkeit: „Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass viele Künstler und Wissenschaftler besonders stabil, zielgerichtet und diszipliniert arbeiten und deswegen die Labilisierung im kreativen Prozess besser ertragen können.“
Er entkräftet damit einen zweiten Mythos: den des chaotischen Genies. „Tatsächlich hat Kreativität ganz viel mit Struktur zu tun“, sagt auch Wissenschaftlerin Julia Frohne. Denn der kreative Prozess an sich sei schon strukturiert und laufe bei jedem gleich ab: In den ersten zwei Phasen beschäftigt man sich mit dem Problem intensiv. Die tatsächliche Bearbeitung aber findet in der Ruhephase, auch Inkubation genannt, statt. Fremde Reize und Informationen werden dabei mit dem Problem in Verbindung gebracht und auf ihr Lösungspotenzial hin geprüft. Das ist auch neurologisch belegt: Schaut man sich das Gehirn im Kernspintomografen an, sieht man, dass die sogenannten Ruhenetzwerke dann aktiv werden, wenn der Mensch nicht bewusst denkt. Der Kern der Kreativität, er steckt daher in einem Wechselspiel aus intensiver Arbeit und Entspannungsphasen.
Ineffektivität aushalten können
Im Arbeitsalltag ist das oft schwer umzusetzen: Stress ist der Hauptgrund für Ideenlosigkeit, wie eine Studie der Unternehmensberatung Iqudo herausfand. Dicht darauf folgen Ablenkungen durch Kollegen oder Chefs. Dabei können schon kleine Maßnahmen zu mehr Einfallsreichtum verhelfen: Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass ein Nickerchen während des Tages den Ideenfluss fördert, auch Bewegung hat positive Auswirkungen auf die Kreativität. Letztlich geht es darum, seine Gedanken schweifen zu lassen. „Man muss sich Freiräume schaffen“, sagt Julia Frohne. „Das bedeutet auch, zeitweilige Ineffektivität aushalten zu können.“
Bei einigen Unternehmen werden dafür mittlerweile spezielle Räume zur Verfügung gestellt: So eröffnete die Werbeagentur BBDO am Standort Düsseldorf unlängst ein Digital-Lab, einen Raum mit Sofas, bunten Kissen und Videospielen, in dem sich Mitarbeiter entspannen und austauschen können. Inspiration wird hier zudem gezielt gesetzt, durch regelmäßige Sessions zu aktuellen Themen, an denen jeder teilnehmen kann. Das wohl bekannteste Beispiel aber ist die Konzernzentrale von Google in Hamburg: Bunte Möbel sollen das Kind im Mitarbeiter hervorlocken, denn Kinder sind bekanntlich besonders kreativ.
Jens-Uwe Meyer nennt solche Maßnahmen „homöopathisch“. Der Innovationsexperte ist Geschäftsführer der Ideeologen und hält Vorträge und Workshops über Innovationsstrategien für Unternehmen wie Nestlé, Vodafone, Deutsche Bahn oder Siemens. Dabei konnte er beobachten, wie Betriebe trotz starken Willens zu einer innovativen Kultur häufig an versteckten Barrieren scheitern. Viel wichtiger, so Meyer, seien das menschliche Umfeld und eine zielgerichtete Inspiration. „Einer der größten Innovationsblocker sind unklare Zielvorgaben. Die Unternehmensführung muss unmissverständlich definieren: Wo bin ich und wo will ich hin?“ Soll heißen: Kreativität im Unternehmen muss von der Chefetage aus gelenkt – und von ihr vorgelebt – werden. Erst dann können Freiraum und inspirierende Maßnahmen wie Kreativseminare auch tatsächlich wirken.
Nicht jede Idee ist originell
In der Gesamtheit betrachtet ist Kreativität von mehreren Faktoren abhängig. Experte Holm-Hadulla unterteilt sie in Begabung, Fachwissen, Motivation, die jeweilige Umgebung sowie bestimmte Persönlichkeitseigenschaften. „Kreativität ist ein Trichter. Sie müssen es aushalten können, dass 80 Prozent der Einfälle unmöglich sind. Nur so kommen Sie auf originelle Ideen“, sagt Pakulat zu seinen Lehrlingen. Gerade im Alltag ist das nicht immer einfach: „Eine Idee zu verwerfen, nachdem ich Tage daran gesessen habe, ist manchmal schwierig zu rechtfertigen“, sagt einer der Teilnehmer. Pakulat zeigt ihnen daher auch, wie man Ideen anhand von Kriterien wie Umsetzbarkeit, Leuchtkraft und Relevanz bewertet. Dass einige ihrer kreativen Einfälle an diesem Tag keine allzu hohen Punktzahlen erreichen, können die Kursteilnehmer verkraften. Denn ihr Ziel haben sie erreicht: Sie haben ihren Gedanken Platz geschaffen, um neue Wege zu gehen.
Dieser Artikel ist zuerst in der Printausgabe der absatzwirtschaft 12-2014 erschienen.