Simona Libner hat es einfach probiert, im Januar 2021, mitten im Lockdown. „Erstes Liveshopping“ postete sie auf Instagram und stellte sich persönlich vor die Kamera. Schwarzes Maxikleid, bunte Satin-Viskose-Kombination, Accessoires und Pflegetipps – ganze 37 Minuten lang führte die Inhaberin der Modeboutique „Fräulein Mode und Wohnen“ durch die aktuelle Kollektion. Mit dem Ergebnis war die Rheinländerin mehr als zufrieden. „70 Kundinnen haben zugesehen. So viele muss man erst mal in den Laden kriegen.“
Noch ist Libner eine Ausnahme – doch Liveshopping gewinnt in Deutschland an Popularität. Die EHI-Studie „Connected Retail 2022“ sieht darin einen der Toptrends, die den Handel in den nächsten fünf Jahren prägen werden. Was in der Coronakrise oft aus der Not heraus gestartet wurde, scheint sich als zusätzliches Format zu etablieren, auch bei der Kundschaft. „Wer einmal im Streaming geshoppt hat, will das häufig fortsetzen, vor allem wenn er oder sie das Alter von 30 nicht überschritten hat“, glaubt Ralf Deckers, Bereichsleiter Customer Insights beim IFH Köln.
Die Werbechance der Spontaneität
Was das Format attraktiv macht, ist – neben dem Thrill des Live-Effekts – die Möglichkeit zur spontanen Interaktion. Die Kunden sitzen nicht, wie im Onlineshop, einsam vor Produktfotos, sondern können Fragen und Wünsche äußern: Fällt der Pulli groß aus oder klein aus? Wie fühlen sich die Knöpfe an? Zeig doch mal das Bündchen! „Man schafft Nahbarkeit und baut eine Beziehung auf“, sagt Yassin Hamdaoui, der bei Douglas den Bereich Social Commerce und damit das Liveshopping verantwortet – und auch selbst als Moderator („Host“) auftritt.
Als Mutterland des Liveshoppings gilt China, wo bereits mehr als zehn Prozent des E-Commerce-Umsatzes in diesem Format erzielt werden; mehr als 40 Prozent der Konsumenten verfolgen solche Ausstrahlungen zumindest gelegentlich. Für Yujin Ouyang, Marketingexpertin bei der auf den chinesischen Markt spezialisierten Tübinger Agentur Storymaker, liegen die Vorteile auf der Hand: Kunden erhielten direkte und individuelle Hilfe bei der Kaufentscheidung.
Händler profitierten von der Neigung zu Impulskäufen: Conversion-Rates von 35 Prozent und mehr gelten als realistisch, geeignetes Sortiment und talentierter Host vorausgesetzt. Das Format erleichtere es Anbietern überdies, ihren Kunden Mehrwert zu bieten, etwa indem Lebensmittel live verkocht oder Kosmetika in schicke Make-ups verwandelt würden, sagt Ouyang: „Das hilft, Kundenloyalität aufzubauen.“
Douglas und Lidl setzen aufs Showgeschäft
Während in Deutschland noch überwiegend große Marken, wie Lidl, Otto oder MediaMarkt, mit Liveshopping experimentieren, finden in China auch kleine Händler schnell ihr Publikum: Mit Taobao Live und WeChat Live gibt es Kanäle, auf die sie sich unkompliziert aufschalten können. Es ist ein Prinzip, wie man es von Amazon Marketplace kennt – die Plattform stellt die Infrastruktur und sorgt für Traffic. „In Deutschland wird so etwas auch kommen“, ist sich Expertin Ouyang sicher.
Derzeit strahlen Unternehmen ihre Liveshows meist über die eigene Website oder ihren Instagram-Account aus. Interessierte Zuschauer müssen sich also gezielt und zu einer bestimmten Uhrzeit zuschalten. Trotzdem sind die Ergebnisse teilweise sehr überzeugend, zum Beispiel bei Douglas.
Die Parfümeriekette experimentierte erstmals 2018 mit dem Format; seit Oktober 2020 laufen die Liveshows nahezu täglich mit durchschnittlich vierstelligen Zuschauerzahlen und hohen Zuwachsraten. „Wir sind immer noch am Anfang“, glaubt Hamdaoui. Doch der Erfolg sei jetzt schon da, nicht nur durch Sofortbestellungen: „Kunden, die Douglas live schauen, besuchen uns häufiger und kaufen mehr ein“ – ihr Umsatz liege um 360 Prozent höher als der anderer E-Commerce-Shopper. Hätten anfangs überwiegend jüngere Leute eingeschaltet, interessierten sich jetzt zunehmend auch Ältere für das Format – eine Folge des geänderten Einkaufsverhaltens während der Pandemie.
Ausschnitte der Livesendungen, etwa kurze Videoclips, nutzt Douglas zudem als Content auf Social-Media-Kanälen oder in seinen Newslettern. Auch hausintern gibt es einen Zusatznutzen: Die Moderatoren wurden teilweise aus den Reihen der eigenen Mitarbeiter akquiriert. „Wir machen den Job des Verkäufers attraktiver und schaffen Gesichter, die vor Ort in der Filiale wiedererkannt werden“, sagt Hamdaoui. Künftig will Douglas den Bereich noch ausbauen, durch weitere Funktionen in einer App, die als Ergänzung zum klassischen Onlineshop eine „Inspirationswelt“ anbietet, mit Videofeed und personalisierten Services, wie etwa einer digitalen Hautanalyse.
Auch Lidl, seit diesem Sommer mit „Lidl Live“ auf Sendung, äußert sich zufrieden. Zuletzt habe man Produkte zum Thema Grillabend angeboten. „Dieses Live-Shopping-Event kam sehr gut bei den Kunden an.“ Künftig sollen die Sendungen als besonderes Highlight monatlich stattfinden, um vor allem Produkte aus den Sortimenten Garten, Heimwerken und Freizeit zu vermarkten.
Effektiv, aber aufwändig
Wer sich für das Format interessiert, sollte allerdings den Aufwand nicht unterschätzen. Zwar gibt es inzwischen Dienstleister, wie beispielsweise Live Buy, Hello Lisa oder Ritzi, die beim Aufbau eines professionellen Settings unterstützen. Wichtig ist jedoch eine realistische Aussicht auf passable Zuschauerzahlen, getrieben durch eine starke Social-Media-Präsenz oder ein besonders zugkräftiges Sortiment: Das Mannheimer Start-up Purelei etwa präsentiert die jeweils neue Kollektion seines Hawaii-Schmucks live. Kleinen oder wenig digitalaffinen Unternehmen jedoch kann die Koordination schnell über den Kopf wachsen: So muss die angepriesene Ware auch stets ausreichend verfügbar und der Versand gesichert sein.
Modehändlerin Simona Libner hatte ihre Livesendungen vorübergehend ausgesetzt. Diesen Herbst jedoch will sie einen Neustart wagen, zur Unterstützung des Weihnachtsgeschäfts in ihren Filialen in Meerbusch, Ratingen und Kempen. Um live generierten Umsatz geht es dabei weniger: „Die Beziehungen zu den Kundinnen werden so gestärkt.“ Außerdem, gibt sie zu, mache ihr das Format einfach Spaß. „Andere finden es befremdlich, in den virtuellen Raum zu sprechen. Ich laufe da zur Hochform auf.“
Dieser Text erschien zuerst im Handelsjournal 4-2022.