Frau Löwe, ist lebenslanges Lernen etwas, das man bewusst angehen muss oder das von allein passiert?
Ich würde es einen täglichen Prozess nennen. Als Psychologin würde ich sagen, dass lebenslanges Lernen uns durch all unsere Lebensphasen hindurch begleitet und sich auch immer verändert. Für mich ist es nichts, das immer bewusst stattfinden muss. Lebensphasen verändern sich, also muss ich dazulernen. Ich bin zum Beispiel mit 21 Jahren Mutter geworden. Heute ist mein Sohn ein Teenager und unsere Beziehung und seine Bedürfnisse in Bezug auf mich als Mutter haben sich sehr verändert. Ich lerne fortlaufend, damit umzugehen. Einige Lernprozesse finden bewusst, aber noch mehr unbewusst statt. Ich werde anders gebraucht als früher.
Haben Sie auch ein Beispiel aus dem Berufsleben?
Wir erleben es ja gerade alle. Künstliche Intelligenz revolutioniert das Arbeiten. Da muss ich mir bewusst die Frage stellen, ob ich jetzt noch lernen muss, Texte zu schreiben, oder ob ich mich darauf fokussiere, wie ich die KI am effektivsten bediene. Welche Erwartungen habe ich an meine Kompetenz?
2022 wurde durch KI viel an- und umgestoßen. Muss ich als Journalist*in oder Marketingmensch bald nur noch prompten können? Würden Sie diese Frage stellen?
Natürlich. ada wurde aus dem Journalismus heraus gegründet. In der Begleitung der Unternehmen bei der digitalen Transformation bedeutet das, dass wir leben, was wir predigen. Wir testen KI-Tools wie beispielsweise ChatGPT und Dall-E sehr intensiv. Wir sehen, was diese können, aber auch, was nicht. Es kann emotional berühren zu sehen, was eine KI kann, nachdem man selbst Jahrzehnte investiert hat, um diese Fähigkeit selbst zu entwickeln. Und das rasante Tempo wird sich fortsetzen.
Das heißt, wir lernen immer?
Ja! Ich werde geboren und fange an zu lernen, wo ich Nahrung herbekomme. Am Ende muss ich lernen, mit dem Tod umzugehen. Dazwischen hört es nie auf.
Dass wir ständig dazulernen müssen, ist in der modernen Arbeitswelt inzwischen zu einem geflügelten Wort geworden. Da hat sich was verändert, oder?
Absolut. Meine Eltern waren beide um die 40 Jahre in einem Betrieb. Die haben natürlich auch dazulernen müssen; die E-Mail wurde eingeführt, es gab neue Computersysteme. Heute hat das aber eine andere Dimension erreicht. Heute verändern sich rasant ganze Berufsbilder. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir heute im gleichen Job noch bis zur Rente durchkommen, ist sehr gering. Und wir verstehen gerade immer besser, was das überhaupt bedeutet: immer dazulernen. Und wie sich unsere Ansätze dabei ändern müssen.
Wie meinen Sie das?
In vielen Unternehmen ist es für die meisten Mitarbeiter*innen inzwischen zur Selbstverständlichkeit geworden, dass stetig dazugelernt wird. Im Jahr 2021 kam ein Hays-Report zu dem Thema heraus. Der hat ein Paradoxon aufgedeckt. Unternehmen verlangen von ihren Mitarbeiter*innen, dass sie die Verantwortung übernehmen und sich um ihre Fortbildungen kümmern. Sie geben ihnen aber nicht die Entscheidungsgewalt über den Prozess. Denn am Ende entscheiden doch wieder Vorgesetzte darüber, ob die Fortbildung genehmigt wird. Manche Unternehmen haben aber auch schon Fortschritte gemacht und geben eher ein Zeitkontingent, das sich die Mitarbeiter*innen frei einteilen können.
Das heißt, die Fachkraft der Zukunft sucht sich aus, was sie lernen will?
Da spielen sehr viele Faktoren eine Rolle und Corona hat in diesem Fall auch im positiven Sinne einiges verändert. Auf einmal wurde Bildung in einem Umfang digital zugänglich, die vorher nicht zugänglich war. Auf einmal musste man auch nicht immer zwingend präsent sein. Mitarbeiter*innen konnten sich viel selbstgesteuerter aussuchen, was sie wann machen.
Auf einmal war also alles für alle zugänglich?
Ja, aber auf einmal hatten Unternehmen auch große Schwierigkeiten damit, den Kulturwandel zu gestalten. Heute sitzen Mitarbeiter*innen während der Arbeit zum Beispiel vor YouTube-Videos und lernen. Das kommt nicht bei jeder Führungskraft gut an. Da müssen also alle Seiten dazulernen.
Sie haben das Wort ja jetzt schon angesprochen: Kulturwandel. Mitarbeiter*innen zum Lernen zu bringen, ist das auch ein Weg hin zu mehr Agilität, Resilienz und krisenresistenten Prozessen?
Ja. In der Vergangenheit lag ein großer Fokus auf der technischen Führung, bei der Lösungen, die in der Vergangenheit funktioniert haben, auf aktuelle Probleme angewendet werden. Wir brauchen jedoch immer mehr adaptive Führung, bei der es darum geht, Risiken einzugehen und neue Ansätze auszuprobieren, um komplexe Herausforderungen zu lösen, für die es keine eindeutigen Lösungen gibt. Das erfordert Agilität im Denken und Handeln, ist ein kontinuierlicher Lernprozess und die Basis für Resilienz: Es geht um die Fähigkeit zur Anpassung.
Sie zeichnen da gerade ein großes Bild.
Und es wird noch größer. Wir müssen lernen, dass in der Digitalisierung ein Gewinn für uns steckt, wenn wir in Deutschland und Europa in der digitalen Transformation langfristig eine Rolle spielen wollen. Wenn wir das digitale Wirtschaftswunder 4.0 erleben wollen, müssen wir lernen, dass digitale Prozesse uns nicht zwingend den Job und die Daseinsberechtigung rauben. Mir wird als Fachkraft dadurch nicht meine Kompetenz abgesprochen, sondern unsere Rollen und Aufgaben verändern sich. Wir können entdecken, wo die Digitalisierung uns besser macht, uns entlastet, wo wir durch sie alternative Handlungsmöglichkeiten haben. Das bedeutet aber auch, dass wir unsere Rollenbilder anpassen müssen. Wenn wir Karriere machen, werden wir normalerweise von unten nach oben immer unantastbarer. Lernkultur bedeutet auch Fehlerkultur – und Fehler zuzulassen, ist für viele Führungskräfte eben ein ganz schöner Spagat.
Und dann müssten wir im besten Falle schon gelernt haben, damit umzugehen.
Genau. Wir sollten uns jetzt die richtigen Fragen stellen und die richtigen Prozesse aufsetzen. Haben die Unternehmen schon Spielregeln für diese digitale Welt, die da entsteht? Für deren Erstellung müssen wir die Tools verstehen und durch die Spielregeln können wir diese effektiver nutzen. So ergibt sich ein natürlicher Lernprozess im Alltag, in dem uns neue Fähigkeiten neue Möglichkeiten bieten. Das Erlernen der Tools hat mich zwischenzeitlich auch gestresst – es braucht eine Weile, bis man sich kompetent fühlt. Aber dann folgt zum Glück auch das Erfolgserlebnis, bestimmte Aufgaben jetzt leichter oder schneller erledigen zu können. Es ergibt sich Zeit, etwas Neues zu lernen. Ein „Cercle Vertueux“ – das Gegenteil des Teufelskreises.