Häufig schränken wir die bestehenden Auswahloptionen zusätzlich selbst ein; aus rationalen, emotionalen Gründen oder weil eine getroffene Auswahl weitere Beschränkungen hervorruft. Neu ist, dass Selbstbeschränkungen häufig auch aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen erfolgen und es deshalb zu erheblichen Wirklichkeitsproblemen kommt. Der Begriff und die Kategorie „Kunde“ sowie neuerdings die Glaubensformel „Kundenorientierung“ sind Selbstbeschränkungen, um unsere (unternehmerische) Freiheit auf bestimmte Optionen zu fokussieren. So muss mittlerweile auch bei der unternehmerischen Verwendung des Begriffs „Kunde“ von einer problematischen Selbstbeschränkung ausgegangen werden.
Obwohl Kundenorientierung und die Ausrichtung „auf den Kunden“ auf den ersten Blick „logisch“ und sinnvoll angesehen werden, entstehen daraus – meist unbewusst für die Unternehmen – erhebliche Probleme in der Zukunftssicherung. Das Übel übermäßiger Selbstbeschränkungen und der sich damit einstellenden Dogmatisierungen, seien sie religiöser, politischer oder marketingtheoretischer Natur, ist die sich verändernde Wirklichkeit. Zukunft lässt sich – so gerne wir das auch durch Theorien zementieren wollen – in den seltensten Fällen gradlinig steuern und erfolgreich linear prolongieren. Die Fokussierung auf ein neutralisiertes Objekt „Kunde“ wird somit seit Jahren zum Dogma für Unternehmensführung, Marketing, Prozess- und Qualitätsmanagement. Hier beginnt die Falle. Nachdem wir in guter Heribert-Meffert-Manier Marketing als kundenorientierte Unternehmensführung verstanden und ein- und ausgerichtet haben, verschwimmt unter heterogenen Rahmenbedingungen die (selbst-)beschränkte und damit bisher eindeutige Freiheit.
Kunden werden plötzlich zu Menschen, die sich eben nicht Lemmingen gleich steuern und beeinflussen lassen. Kundenzufriedenheit, die irrigerweise immer noch als „Schlüssel“ zur Kundenloyalität verstanden wird, erweist sich als ein brüchiges Gut von Kundenfragebogen. Stopp – auch die gegenteilige Annahme eines mündigen Kunden wäre fatal. Kunden sind scheinbar häufig Menschen, die nicht wissen, was sie wollen, sondern wissen eher, was sie nicht wollen. Aber auch das scheinen sie nicht genau zu wissen. „Kunden“ sind also Menschen, die das tun, was Menschen tun. Sie sind sprunghaft.
Sporadisch, spontan, antirational und wankelmütig. Hier mal Ebay, Amazon oder Facebook. Dort auf den Rat des Nachbarn oder der eigenen Kinder hören und – letztlich – durch das Gerede von „Mit-Kunden“ aus der eigenen Clique (egal ob Teens oder Golden Eighties) weiteren heterogenen Einflüssen ausgesetzt sein. Der hybride Kunde mit einer Vielzahl von Entscheidungssprüngen und Illoyalität erobert den Markt. Und die ideologische Klarheit und Stringenz eines „Kundenbegriffs“ ist in einer heterogenen Lebensführung selten mit stochastischen Methoden noch vorhersagbar. Es wird gemessen, analysiert und theoretisch-empirisch geclustert (z.B. bei Milieustudien), um die heterogene Wirklichkeit zielorientiert einfangen zu können. Alles nur, um die zerfasernde Wirklichkeit einem homogenisierten Theoriemodell zu unterwerfen. Die Selbstillusionierung der Unternehmen, auch von Konzernen, kennt hier keine Grenzen.
Ein Beispiel jüngster Geschichte: Ich gehe mit einem 500 Euro-Schein in die ehemalige Zentrale der Dresdener Bank am Kurfürstenhof in Frankfurt. Ich möchte ein Brot kaufen und will vorab in der Bank den Schein wechseln, weil mir das nötige Kleingeld fehlt. Das gelbe Signet der Commerzbank prangt an der Fassade. Innen ist alles hypermodern. So auch die zwei gegelten Vorzeige-Tresenbänker – beide unter 30 Jahren. Ich bin alleine im gesamten offenen Ensemble der Bank. Kein „Kunde“ weit und breit. Ich zücke mein Portemonnaie, klappe es auf und lege den 500 Euro-Schein auf den Tresen und sage: „Wechseln Sie mir doch bitte den Schein.“
Was nun folgt, ist selbst für mich als hartgesottenen Berater sprachverstörend. „Sind Sie bei uns Kunde?“ erhalte ich mit einem charmanten, aber schon wissenden Lächeln, dass ich nicht dem Commerzbank-Organisationshandbuch-Kundenmilieu zu entsprechen scheine. Irritiert und zögerlich sage ich: „Nein.“ Die Reaktion ist vernichtend und wird durch einen bemitleidenswerten Blick des zweiten Tresenbänkers unterstrichen. Auf dem Tresen liegt immer noch – neben einem Fünfhunderter – mein offenes Portemonnaie aus dem sichtbar eine Vielzahl von Kreditkartenfarben von Blau, Gold bis Titanschwarz ersichtlich ist. Offensichtlich hat mit mir kein Obdachloser des Bahnhofsviertels in Frankfurt versucht, in der Bank einen Euro zu schnorren. Ich sage: „Sie meinen das nicht ernst.“ Zaghaft setze ich hinzu „oder?“ Mit einem generösen Selbstbewusstsein und der Kompetenz aus einer Kunden-Schulung im Rücken wird die Antwort unausgesprochen vorbereitet.
Mittlerweile ist durch das offene Ensemble auch das Interesse der gelangweilten rund zehn Tischbänker an dem Tresengespräch geweckt. Mir, der einzigen nicht von der Bank alimentierten Person in den heiligen Hallen, gilt nun die gesammelte
Aufmerksamkeit. „Wenn Sie kein Kunde bei uns sind, können wir Sie nicht bedienen!“ Das plurale „WIR“ verstärkt meine Befürchtung. Offensichtlich wurden die letzten Synapsen unternehmerischen Denkens mit dem morgendlichen Gel fixiert. Mein „Wie bitte?“ wird hart und gezwungen lächelnd quittiert und bestätigt: „Wir sind angewiesen, nur noch unsere Kunden zu bedienen.“ Verdattert trete ich das Spießrutenlaufen durch die Blicke der „Kundenbetreuer“ zur mittlerweile noblen Kaiserstraße an.
Soviel zur Frontend-Geschichte. Backend werde ich zugemüllt mit Werbeflyern von der Commerzbank und ihren Kundenrechten (seit Anfang 2011 zur Kundencharta hochstilisiert; www.kundencharta.commerzbank.de), ich möge doch ein Konto eröffnen. Vorgeführt werden mir genau jene gegelten Tresenbänkern, die mich vollmundig und unternehmensstrategisch wie einen Vollidioten behandelt haben, weil ich ja noch kein Kunde bin. Muss wohl so sein, weil es im Handbuch steht und ein Audit anstehen könnte. Wie ich mich auch nur irren konnte, dass den Banken hoheitliche gesellschaftliche Aufgaben wie Geldversorgung übertragen wurden oder ich zwar marketingstrategisch als Interessent ausgemacht, aber die aktive Schwelle zum Kunden von mir aus noch nicht überschritten hatte.
Hätte das Gel nicht die letzten unternehmerischen Synapsen flachgelegt, hätte die Antwort auf meinen Nicht-Kunden-Status lauten können: „Wie wäre es, wenn ich Ihnen den Schein wechsle und statt fünfhundert 550 Euro rausgebe? Wir eröffnen ein Vorteilskonto für Sie; kostenfrei und mit Begrüßungsgeld. Wie wäre das?“ Aufgeschreckt durch dieses Erlebnis habe ich zwei meiner Berater angerufen und gebeten in verschiedenen Filialen der Commerzbank in Deutschland 500 Euro-Scheine zu wechseln. Das Ergebnis war vernichtend: Nur einem Berater gelang es einem Tresenbänker im Ruhrgebiet davon zu überzeugen, dass der Commerzbank Bankautomat gerade diesen Schein ausgespuckt habe und er ein Brot kaufen müsse. Kommentiert wurden das mit: „Na dann, dann kann ich eine Ausnahme machen, auch wenn Sie kein Kunde bei uns sind.“
Meine Schlussfolgerung aus diesen und anderen Erlebnissen: Der Kundenbegriff ist eine Falle im heterogenen 21. Jahrhundert. Es ist unternehmerisch höchst verwerflich, wenn dieser Begriff zu einer rigiden Single-Option mutiert und als Aus- und Abgrenzungsstrategie zu sehen ist. Einerseits ist es schlichter Unsinn ein Unternehmen nach Kundenorientierung auszurichten. Unternehmen als Organisationen und Menschen als Mitarbeiter bieten Leistungen und keine Bücklingkultur oder Herrenmentalität an. Die Personen, die mir und uns gegenüber treten, sind in Unternehmen und Gesellschaft eben keine klassifizierten Objekte, die auf gewisse funktionale Aspekte (nämlich solvente Käufer oder Wiederkäufer) reduziert werden können, sondern eigenständige Subjekte mit vielfältigen heterogenen Veranlagungen.
Ein Unternehmen derart auf Kundenorientierung als oberstes Ziel auszurichten, wird in einer heterogen-vernetzten Welt zu einer Zukunftsfalle. Denn Kunden sind einfach nur Menschen mit Neugier, Bedürfnissen und einem heterogenen Leben. Diese selbstbegrenzte Ausrichtung beschränkt die unternehmerische Freiheit heute in unsachgemäßer und zukunftsschädlicher Weise. Die Sprunghaftigkeit des Menschen als Kunden in einere digitalen Vernetzungsgesellschaft ist eben keine zu bekämpfende Zerfaserung, sondern ein Schritt, der die eigenen Denk- und Lösungsmodelle durch neue Freiheitsaspekte grundlegend in Frage stellt. Zukünftig werden wohl nur die Unternehmen überleben, die sich nicht als isolierte Kundenghettos verdichten, sondern die Marktchancen durch offene Türen begrüßen. Ein Mensch könnte dann auch zum Kunden werden und Mensch bleiben!
Über den Autor: Dr. Dieter Becker ist Theologe und Betriebswirt. Er ist Geschäftsführer der Frankfurter „Agentur-aim“. Die Unternehmensberatung entwickelt Strategien und setzt sie in operative Maßnahmen um.