Luisa Neubauer hat der (digitalen) Marketingbranche auf dem OMR Festival ganz schön viel zugemutet. In ihrer Keynote „Cut the Bullshit“ prangerte die „Fridays for Future“-Frontfrau massiv das weltweite Greenwashing an – und fand auch schnell die Haupt- und Mittäter: Unternehmenslenker und deren Marketingverantwortliche, die die Öffentlichkeit nachweislich und wissentlich betrügen und belügen. „Macht da nicht mehr mit“, ruft Neubauer in den rappelvollen OMR-Saal, und fordert die versammelte Digitalmarketingszene zur Kündigung auf (wie übrigens im November 2022 schon unsere Kolumnistin Helena Marschall, ebenfalls “Fridays for Future”). Und was tut die Community? Quittiert Neubauers Appell mit Standing Ovations. So manchem Marketingmanager, der heute schon nicht mehr weiß, wo er künftig noch ausreichend gute Leute finden soll, dürfte spätestens an dieser Stelle das Herz in die Hose gerutscht sein.
„Conscious Quitting“: Nein zu ESG-Verweigerern
Nun muss man Neubauer natürlich nicht zustimmen. Zumal sie beim anschließenden Talk mit OMR-Chef Philipp Westermeyer auf ziemlich konkrete Fragen nur ziemlich vage Antworten parat hatte. Und natürlich wird in den nächsten Wochen wegen einer OMR Keynote keine Kündigungswelle durch die deutsche Marketingszene rollen.
Doch Neubauer hat einen Nerv getroffen. Das zeigen auch die Ergebnisse einer aktuellen Studie von KPMG in Großbritannien. Danach fordern bereits 46 Prozent der Befragten von ihrem Arbeitgeber ein öffentliches Bekenntnis zu ESG-Maßnahmen (Environmental, Social, Governance). Satte 20 Prozent haben sogar schonmal ein neues Jobangebot ausgeschlagen, weil ihnen das ESG-Engagement des potenziellen Arbeitgebers nicht ausreichte. Bei 18- bis 24-Jährigen waren es sogar schon jede und jeder Dritte. „Climate Quitting“ und „Conscious Quitting“ sind die neuen Namen für diese neuen Trends.
Kommt nach der Flugscham nun also die Jobscham? Wird es bald verpönt sein, bei ESG-resistenten Unternehmen anzuheuern? Werden Menschen bald tatsächlich, wie es Umweltschützerin Neubauer fordert, „nicht mehr mitmachen“ und reihenweise kündigen, wenn ihnen die Unternehmenswerte nicht passen? „Es ist gut möglich, dass das ,bewusste Aussteigen‘ in den kommenden Jahren zu einem bedeutenderen Trend wird“, sagt Marie Kanellopulos, Managing Partnerin bei der Personalberatung DONE!Berlin, im Interview mit absatzwirtschaft. Der Handlungsdruck für Unternehmen sei enorm.
64 Prozent wünschen Workation im Ausland
Wer mir erklären kann, wie die drohende Jobscham zu den Ergebnissen einer neuen PwC-Studie passt, darf mir herzlich gerne eine E-Mail schicken. Die Studie besagt nämlich, dass für 80 Prozent der Arbeitnehmenden die Möglichkeit zu Workation wichtig bei der Jobwahl ist. Davon wünschen sich 64 Prozent Workation im Ausland, bei den 18- bis 29-Jährigen sind es sogar 81 Prozent. Als wichtigsten Grund für Workation nennen 82 Prozent die „Möglichkeit zur Winterflucht“ vor kaltem Wetter in Deutschland. Beliebteste Destinationen sind denn auch Spanien (37 Prozent) und Italien (32 Prozent), aber auch Nordamerika (17 Prozent) sowie Mittel- und Südamerika (9 Prozent) werden genannt. Viele Gegenden also, in die man nur sehr schwer ohne Flieger kommt.
Und wenn schon nicht Workation, dann doch zumindest Homeoffice. Alles, bloß nicht zurück ins Büro – eine Devise, die immer mehr Anhängerinnen und Anhänger findet. Laut ifo Institut arbeitet inzwischen ein Viertel aller Beschäftigten hierzulande regelmäßig im Homeoffice. Aktuell seien „12,3 Prozent aller Arbeitsplätze vor Ort an einem durchschnittlichen Tag wegen Homeoffice nicht ausgelastet“, sagt ifo-Experte Simon Krause. Vor Corona waren es nur 4,6 Prozent. Krause – und nicht nur der – rechnet bereits mit ernsthaften Auswirkungen auf die Immobilienwirtschaft, vor allem in Innenstädten. „Manche Firmen wandeln leere Büros um in Coworking-Spaces für mehr persönlichen Austausch an den Präsenztagen. Andere Unternehmen verringern ihren Flächenbedarf, um Kosten für die nicht genutzten Büros einzusparen“, so der ifo-Experte.
Diverser geht immer, oder?
Ein anderes Thema: Am 23. Mai, also morgen, ist der 11. Deutsche Diversity Tag. Für die Unternehmensinitiative Charta der Vielfalt ein guter Anlass, mit einem knackigen Factsheet auf die größten Missstände und wichtigsten Fakten aufmerksam zu machen. Dort erfährt man beispielsweise, dass 80 Prozent der Charta-Unterzeichnenden Handlungsbedarf beim Thema Religion als Vielfaltsdimension sehen, dass 39 Prozent der Transpersonen vergangenes Jahr Diskriminierung bei der Jobsuche oder am Arbeitsplatz erleben mussten, aber auch, dass für 94 Prozent der Befragten einer Page Group-Studie Diversity Management wichtig für den weltweiten Unternehmenserfolg ist.
Soweit zum Spannungsbogen zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der heutigen Jobwelt.
Und das führt uns schnurstracks zu Benjamin von Stuckrad-Barre, der mit seinem Roman „Noch wach?“ gerade auf Lesetour durch Deutschland ist. Das Buch handelt, stark verkürzt, von der MeToo-Bewegung, von frauenfeindlichen Auswüchsen eines – fiktiven – Chefredakteurs und der Rolle eines – ebenfalls fiktiven – Chefs eines großen deutschen TV-Senders. Was das alles mit einem Newsletter über „Work & Culture“ zu tun hat? Eine Menge. Viele wollen in ersterem bekanntlich den ehemaligen „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt erkennen, in zweiterem Axel Springer-CEO Matthias Döpfner. Beide strapazieren die Kultur im Hause Axel Springer gerade – rein nicht-fiktiv und jeder auf seine Weise – ziemlich heftig. Auf die Frage nach seiner Motivation für das Buch, antwortet von Stuckrad-Barre gerne: „An bestimmten Weggabelungen geht es ganz simpel darum, kein Arschloch zu sein.“
Das ist doch mal ein Mindeststandard, auf den sich eigentlich alle Menschen längst hätten einigen können sollten. Für ein positives Miteinander und für eine anständige Unternehmenskultur. Umso bemerkenswerter, dass es immer noch bemerkenswert ist.
In diesem Sinne: Einen anständigen Start in die Woche und bleiben Sie gut drauf!