Minuszeichen sind seit Jahren ein ebenso zuverlässiger wie lästiger Begleiter von Mitteilungen über Auflagentrends. Es stellt sich scheinbar gar nicht mehr die Frage, ob, sondern nur wie stark die Zahl verkaufter Zeitungen nun schon wieder gesunken ist. Routiniert ziehen Verlage dann Medienwandel und Demografie als Erklärungsmuster heran. Lässt sich trotz Absatzschrumpfung ein steigender Marktanteil errechnen, wird das erleichtert kundgetan.
Auch auf die jüngsten Auswertungen der Verkaufsstatistik kontern Verlage mit den einstudierten Reflexen. Die überregionalen Tageszeitungen haben gegenüber dem Vorjahr sämtlich an Auflage eingebüßt, zwischen einem und sieben Prozent. „Bild“ hat im dritten Quartal hintereinander weniger als drei Millionen Exemplare verkauft – innerhalb von zehn Jahren bedeutet das für die nach wie vor größte deutsche Boulevardzeitung einen Rückgang von einem Drittel.
Die nationalen Wochenzeitungen liefern fürs 2. Quartal 2011 erfreulich gute Zahlen. Relativ am stärksten konnte aktuell die „Welt am Sonntag“ zulegen mit einem Plus von 2,9 Prozent auf nun 412 500 Stück, wobei jedoch im Vorjahr die Kompakt-Ausgabe noch nicht mitgezählt wurde. Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (F.A.S.) hat mit durchschnittlich 357 654 verkauften Exemplaren zehn Jahre nach ihrer Gründung eine Bestmarke aufgestellt und den Abstand zur großen Schwester „FAZ“ auf rund 3 000 verkürzt. Das Konzept einer Familienzeitung, die nicht Pflichtlektüre sein, sondern Lust aufs Lesen machen will, scheint dauerhaft Früchte zu tragen. Die schon länger über die Maßen erfolgreiche „Zeit“ meldet mit 503 559 die höchste Verkaufsauflage, die je zwischen April und Juni erzielt wurde. Geschäftsführer Rainer Esser räumt ein, dass der Markt schwieriger geworden sei, will sich aber nach sieben Jahren mit steigenden Auflagen und Reichweiten nicht auf dem Erreichten ausruhen und die Markenfamilie rund um „Zeit“ und Zeit.de weiter ausbauen. „Unsere Strategie heißt Wachstum“, sagt er.
Offensichtlich tun sich die Tageszeitungen schwerer als die Wochenpresse, bei einer langfristigen Betrachtung weichen die Unterschiede jedoch auf. Gemessen an der hart verkauften Auflage, also Einzelverkauf und Abonnements, haben beide Genres in den vergangenen zehn Jahren ähnliche Einbußen erlitten.
Bei den Tageszeitungen inklusive „Bild“ beträgt das Minus 28 Prozent, bei den Wochentiteln 26 Prozent. Neugründungen wie die „Financial Times Deutschland“ und „F.A.S.“ liegen über ihrem IVW-Einstiegswert, während von den Traditionsblättern lediglich „Die Zeit“ ihre Auflage um beachtliche 10,8 Prozent steigern konnte und der Rückgang der „Süddeutschen Zeitung“ (SZ) mit 3,2 Prozent moderat ausfällt. Wenig Zukunftshoffnung verbreitet Sven Dierks, Inhaber des IFCom-Instituts in Hamburg: „Die Medienforschung geht unisono davon aus, dass Tageszeitungen rapide an Bedeutung verlieren werden, solange sie keinen neuen USP gewinnen.“
Derweil fallen die Ergebnisse aktueller Markt-Media-Studien wie der Leistungsanalyse Entscheidungsträger (LAE) und der Allensbacher Markt- und Werbeträgeranalyse (AWA) besser aus, als es die Auflagenkurven der vergangenen Jahre vermuten lassen. Während beispielsweise die regionalen Tageszeitungen laut AWA 2011 eine um 1,9 geringere Reichweite aufweisen als im Jahr zuvor, haben die überregionalen Kaufzeitungen (plus 1,9 Prozent) und Abo-Tageszeitungen (plus 1,7 Prozent) zugelegt.
Dabei lohnt ein Blick auf Details. Der Akademiker-Anteil unter den Lesern der „Zeit“ beispielsweise ist überproportional gestiegen – zwischen 1995 und 2011 von 32 auf 43 Prozent. Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den Wochenmagazinen „Spiegel“ (von 20 auf 32 Prozent), „Focus“ (von 15 auf 26 Prozent) und „Stern“ (von 13 auf 20 Prozent). Renate Köcher, Chefin des Instituts für Demoskopie (IfD) Allensbach, verweist auf einen klaren, sich verstärkenden Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Art der Mediennutzung. „Leseaffinität ist ausgeprägt schichtgebunden“, betont sie. Während jeder zweite (51 Prozent) der Oberschicht-Angehörigen angibt, dass er Bücher, Zeitschriften und Zeitungen lese, wann immer er Zeit habe, sind es in der Mittelschicht 41 Prozent und in der Unterschicht nur 28 Prozent. Köcher: „Das Publikum der verschiedenen Medien und Formate trennt sich verstärkt nach den sozialen Schichten.“
Publikationen wie die überregionalen Wochenblätter und Abo-Tageszeitungen werden nachweislich von einem überdurchschnittlich gebildeten und markenorientierten Publikum gelesen, das einen hohen Informationsbedarf hat und neben dem Internet sehr bewusst Print nutzt. Ein Befund, der dazu beiträgt, das Profil dieser Mediengattung zu schärfen und ihre Kontaktqualität zu bestätigen. Das ist zwar erfreulich für die herausgebenden Verlage, löst aber nicht das wirtschaftliche Dilemma, in dem sie stecken, weil der Auflagenrückgang bei den meisten Titeln anhält – und der volatile Werbemarkt ebenfalls keine sicheren Leitplanken bietet.
Zumindest hat die starke Konjunktur das Anzeigengeschäft angekurbelt und steigenden Umsatz gebracht. Laut Nielsen-Statistik haben sämtliche großen überregionalen Zeitungen mit Ausnahme der „Welt am Sonntag“ (minus 5,2 Prozent) im ersten Halbjahr 2011gegenüber dem Vorjahreszeitraum ihre Brutto-Werbeerlöse gesteigert. Am stärksten gewachsen sind die „F.A.S.“ (plus 27,5 Prozent) und ihre große Schwester „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (plus 24,6 Prozent) sowie das „Handelsblatt“ (plus 18,6 Prozent).
Allerdings ist das nationale Zeitungsgewerbe äußerst anfällig für gesamtwirtschaftliche Schwankungen. Nach der Pleite von Lehman Brothers 2008 und den folgenden Turbulenzen in der Weltwirtschaft brach manchen Titeln rund ein Drittel ihres Anzeigenvolumens weg. „Überregionale Tages- und Wochenzeitungen haben besonders unter der Krise gelitten. Die Umsätze von 2007 werden die meisten Titel nicht mehr erreichen“, sagt Jochen Preusche, Managing Director der Agentur Optimedia in Düsseldorf. Ein spürbarer Einbruch seinerzeit sei angesichts des Schwerpunkts der beiden Mediengattungen auf Wirtschafts-, Entscheider- und Imageanzeigen auch zu erwarten gewesen. „Nach ihrem Tiefpunkt 2009 hat sich das Segment überraschend schnell wieder erholt“, stellt Preusche fest.
Das Ansehen als Werbeträger ist eng verknüpft mit dem Erfolg beim Leser. Am Beispiel der „Süddeutschen Zeitung“ lässt sich das schön darstellen. So haben die Blattmacher in München in den vergangenen Jahren kräftig und ausdauernd daran gearbeitet, unter anderem dem Wirtschaftsteil schärfere Konturen zu verleihen. „Wir haben uns früher und deutlicher von einer überwiegenden Routineberichterstattung verabschiedet, wie sie in Zeitungen jahrelang gepflegt wurde“, sagt Ressortleiter Marc Beise. Heute wird gesteigerter Wert darauf gelegt, Themen selbst zu setzen oder ihnen einen besonderen Dreh zu geben.
Außerdem seien Zeitungen gefordert, Informationen einzuordnen, Zusammenhänge darzustellen und Hintergründe zu beleuchten. „Unsere Leser erwarten das, wie wir aus einer ausführlichen Befragung wissen“, sagt Co-Ressortchef Hans-Jürgen Jakobs, zuvor fünf Jahre lang verantwortlich für Sueddeutsche.de. Doch nicht nur das Konzept und die Themenauswahl, die Fakten und die Analyse müssen überzeugen. „Der Lesespaß darf nicht zu kurz kommen“, sind sich die beiden Ressortleiter einig. Gerade „SZ“-Leser schätzen Sprachkunst und – bei aller zu Recht erwarteten Seriosität – eine gewisse Frechheit, viel Wortwitz und Ironie: „Wirtschaft in der Zeitung darf nicht trocken und anstrengend sein, sondern muss Temperament und viele Farben haben, soll auch unterhalten. An dieser optimalen Mischung arbeiten wir jeden Tag.“
Mit Erfolg, wie die Ergebnisse der aktuellen LAE zeigen. Dort hat sich die „SZ“ erstmals an die Spitze der Zeitungen gesetzt. Während sie in der Gesamt-reichweite die Nase vorn hat, zeigen Wettbewerber anderweitig ihre Qualitäten. So kommt das „Handelsblatt“ auf statistisch 2,24 LAE-Leser pro Exemplar und schafft vor den VDI Nachrichten (Faktor 1,4) und der „Financial Times Deutschland“ (1,34) die mit Abstand höchste Entscheiderdichte bezogen auf die verkaufte Auflage.
Die hat unter der Führung des im April 2010 angetretenen Chefredakteurs Gabor Steingart zwar noch nicht die Kurve nach oben gekriegt, doch die Weiterentwicklung der Zeitung wird wahrgenommen und positiv bewertet. „Der redaktionelle Relaunch und das neue Format kommen bei Mediaplanern und Werbekunden sehr gut an“, berichtet Optimedia-Chef Preusche. „Aber es ist auch klar, dass eine solche Umstellung am Lesermarkt etwas länger braucht.“
„Gutes Konsumklima steigert die Leselust“
Print siecht dahin? Von wegen. Laut AWA dreht der Trend. Medienforscher Johannes Schneller über dynamische Neulinge und gründungseifrige Verlage, geringere Risiken und kürzere Lebenszyklen.
Das Gespräch führte Roland Karle.
Die AWA 2011 weist einen Anstieg der Printnutzung aus. Was sind die Hauptgründe dafür?
JOHANNES SCHNELLER: Es zeigt sich erneut, wie private Anschaffungspläne und Printkonjunktur zusammenhängen. Hier sind gedruckte Medien weiterhin wichtige Ratgeber. Wer den Kauf eines Fahrzeugs erwägt, informiert sich in Autozeitschriften, über neueste Produkte der Unterhaltungselektronik holt man sich Tipps in einschlägigen Magazinen. Frauenzeitschriften und Titel aus dem Segment Wohnen/Einrichten bedienen ein latentes Interesse an verschiedensten Produkten. Das sind nur einige Beispiele, die aber belegen, dass die Intensität der Nutzung gedruckter Medien bei gutem Konsumklima zunimmt. Bereits seit Frühjahr 2009 ist die Anschaffungsneigung der Deutschen spürbar gestiegen – und entsprechend werden mehr Printmedien gelesen.
Lesen auch jüngere Leute wieder mehr?
SCHNELLER: Ja, eindeutig. Das Reichweitenplus ist sogar wesentlich auf die wieder gestiegene Lesefreude der Jüngeren zurückzuführen. Während der Zeitschriftenkonsum der 14- bis 29-Jährigen in den drei Jahren zuvor sich klar rückläufig entwickelte, lesen sie jetzt wieder mehr als im Vorjahr. Laut aktueller AWA ergibt sich für diese Zielgruppe ein Anstieg von 1,1 Prozent. Auch bei den Frauen haben wir eine um 1,5 Prozent höhere Reichweite ermittelt.
Hat das mit den neueren Titeln zu tun, die sich häufig an Frauen wenden?
SCHNELLER: Tatsächlich ist es so, dass Verlage in den vergangenen zehn Jahren besonders viele Printmedien herausgebracht haben, die sich an eine weibliche Leserschaft richten. Wir haben das näher untersucht: Während alle Zeitschriften im Durchschnitt zu 54 Prozent von Frauen und zu 46 Prozent von Männern gelesen werden, liegt das Verhältnis bezogen auf die 50 erfolgreichen Neugründungen nach dem Jahr 2000 bei 66 zu 34 zugunsten der Frauen.
Die 50 Neugründungen der letzten zehn Jahre haben mit einem Plus von 9,3 Prozent deutlich mehr Leser hinzugewonnen als die AWA-Printtitel mit 0,7 Prozent insgesamt. Das ist ein enormer Unterschied. Sind Sie davon überrascht?
SCHNELLER: Zunächst einmal: Natürlich gab es auch neue Titel, die sich nicht durchgesetzt haben und nicht mehr auf dem Markt sind. Aber die 50 Medien, die es geschafft haben und zur aktuellen AWA gehören, entwickeln sich beeindruckend dynamisch. Bei näherem Hinsehen erkennt man, dass die Neugründungen mehrheitlich junge Zielgruppen ansprechen und dass zwei Drittel aus dem Segment der Frauenzeitschriften kommen. Es sind passgenaue Angebote und sie verjüngen die Gattung.
Alle reden von Printkrise, dabei sind die Verlage richtig gründungseifrig. Warum ist das so?
SCHNELLER: Da liegt jeder Einzelfall anders. Ein Grund ist, dass im digitalen Zeitalter die Herstellung von Printmedien günstiger geworden ist. Außerdem wird öfter als früher mit One-Shots getestet, so dass das Risiko überschaubar bleibt. Und die Verlage gehen nicht mehr von so langen Lebenszyklen ihrer Printtitel aus: Heute nehmen sie schneller Themen und Trends auf, denken und planen in kürzeren Zeithorizonten.
Wie muss ein Printmedium gemacht sein, damit es ankommt?
SCHNELLER: Klare Muster dafür sind kaum erkennbar. Es kommt auf die individuelle Attraktivität an, auf die speziellen Gratifikationen, auf Investitionen in die redaktionelle Qualität. Angesichts des stärkeren Wettbewerbs auch durch andere Mediengattungen muss man den Leser heute passgenau bedienen.
Überregionale Tageszeitungen haben an Reichweite gewonnen. Was machen sie besser als die regionalen Blätter?
SCHNELLER: Ihre Zielgruppen und Funktionen unterscheiden sich deutlich. Zeitungen wie „FAZ“ und „SZ“, „Die Welt“, „Handelsblatt“ und „FTD“ sprechen eine andere Leserschaft an. Ein Publikum, das einen hohen Informationsbedarf hat und neben dem Internet sehr bewusst Print nutzt. Aus Untersuchungen wissen wir, dass diese Menschen Gedrucktes auch deshalb schätzen, weil sie sich dann Inhalte besser merken können.
Und was ist das Problem der regionalen Blätter?
SCHNELLER: Vor allem die anhaltende Entwicklung, dass junge Leute seltener als früher eine Bindung zur Regionalzeitung aufbauen. Das belegen unsere Studien schon seit zwei Jahrzehnten. Die Zahl der jungen Leser schrumpft.
Viele Zeitungen mühen sich sehr, um Angebote für Junge zu schaffen. Macht sich das nicht bezahlt?
SCHNELLER: Die Entwicklung wäre sicher noch ungünstiger, wenn die Verlage gar nichts dagegen unternähmen. Den generellen Trend konnten sie aber bislang nicht aufhalten. Und wir wissen: Wer die Zeitung nicht früh kennen lernt, wird sie später kaum entdecken.
Wochen- und Sonntagszeitungen entwickeln sich sehr stabil. Weshalb?
SCHNELLER: Gerade der Sonntagsmarkt bietet einen nicht zu unterschätzenden Vorteil: Das Zeitbudget der Leser ist am Wochenende größer als an Werktagen. Hinzu kommt, dass das wöchentliche Paket an Hintergrundinformation als gut verdaulich wahrgenommen wird. Es gibt das Gefühl „Das kann ich packen“.
Die „FAZ“ und „Welt“ haben sonntägliche Schwestern. Nützt ihnen das?
SCHNELLER: Wenig. Denn die Titel adressieren zwar vergleichbare Zielgruppen, aber in der Leserschaft finden sich relativ geringe Überschneidungen. Tages- und Wochenzeitung machen sich keine unmittelbare Konkurrenz, aber sind auch keine automatische Ergänzungslektüre.
In der AWA 2011 hat das Segment „Wohnen und Einrichten“ am stärksten zugelegt. Verbirgt sich dahinter ein gesellschaftlicher Trend?
SCHNELLER: Der Zuwachs von zwölf Prozent ist vor allem auf die steile Entwicklung von „Landlust“ zurückzuführen. Ohne diesen Titel ergibt sich ein Plus von knapp sechs Prozent. Es gibt ein stabil hohes Interesse an Wohn- und Einrichtungsthemen, an Design und Architektur. Flankiert wird es von entsprechenden Anschaffungsplänen, was die wachsende Reichweite durchaus nachvollziehbar macht.
Über Fußball, Autos und Sex kann man sich im Internet informieren. Dennoch wachsen die Reichweiten von Zeitschriften wie „Kicker“, „Auto Motor und Sport“ und „Playboy“. Warum?
SCHNELLER: Das Internet hat seine besondere Stärke darin, dass Nutzer gezielt suchen können. Print dagegen hilft, den Interessenhorizont zu erweitern. Inzwischen haben viele Menschen ihren Umgang mit den Medien neu organisiert, entlang der besonderen Begabungen der Medien. Ein Erklärungsansatz lautet, dass die inzwischen fester gefügten Nutzungsmuster im Internet weniger Aufmerksamkeit binden – und davon profitiert Print. Bei den geschilderten Beispielen können die Zeitschriften viele ihrer Stärken voll ausspielen. Sie bieten andere Gratifikationen als das Internet. Sie breiten die Themen vor dem Leser aus, bieten opulente Bilderstrecken und können überall entspannt gelesen werden.