„Die Geschwindigkeit von Veränderung ist die geringste Geschwindigkeit, die wir in unserem Leben erleben werden“ – das sagte Matt Brittin, Google Europachef, schon vor einigen Jahren. Doch spätestens die Pandemie hat gezeigt, dass bestimmte Umstände uns zu Veränderungen zwingen und eingefahrene Konstanten über den Haufen geworfen werden können: sei es die Art und Weise, wie Unternehmen arbeiten, agieren oder kollaborieren.
Annahmen, die über Jahrzehnte Bestand hatten, wurden in nur wenigen Tagen gestürzt – so auch das einst unerschütterliche Konzept Office Space. Heute stehen wir am Anfang einiger massiver technologischer Revolutionen – das Metaverse, AR, VR, AI beziehungsweise Machine Learning und Automation stellen Unternehmen vor ganz neue Herausforderungen. Um morgen noch dabei zu sein, müssen Unternehmen heute auf diese Veränderungen reagieren. Neue Geschäftsmodelle sind nicht genug – wir müssen insbesondere die Art und Weise, wie wir zusammenarbeiten und wie wir dabei auf neue Ideen kommen, weiterentwickeln. Ein Skill ist dabei der Schlüssel zum Erfolg von morgen – es ist die Kreativität.
Change, Diversität, Kreativität: So gelingt die Weiterentwicklung
Doch was verbirgt sich eigentlich hinter diesem abstrakten Begriff? Bei Kreativität im Unternehmensalltag geht es darum, unterschiedliche Perspektiven einzubringen, eine Fehlerkultur zu etablieren – und auch dann neue Wege zu gehen, wenn das gewünschte Resultat noch ungewiss ist. In der heutigen Geschäftswelt kollidiert diese Ungewissheit jedoch immer noch zu oft mit dem allgemeinen Verständnis der Erfüllung von bekannten Messwerten. In vielen Unternehmen herrschen nach wie vor veraltete Strukturen – dazu gehört etwa der starre Fokus auf risikoaverse Quartalsergebnisse oder Performance Reviews, die der Kreativität keinen Raum lassen.
Heute müssen Unternehmen und Führung neu gedacht werden, um Kreativität in den Alltag zu integrieren. Doch wie gelingt das? Im ersten Schritt müssen sich Unternehmen grundsätzlich dafür öffnen, Neugier entwickeln und oft auch ihre Komfortzone verlassen. Als Wegweiser können dabei folgende Faktoren dienen: eine gesunde Fehlerkultur, weniger Stress, Förderung der mentalen Gesundheit und die Möglichkeit, kreative Prozesse störungsfrei zu gestalten.
Eine maßgebliche Zutat für gelungene Kreativität wird allerdings viel zu oft übersehen – die Diversität. Gemeint ist Diversität in all ihren Facetten – darunter neben der Vielschichtigkeit von Gender-Zugehörigkeiten auch die sexuelle Orientierung und gemischte Altersstufen sowie die ethnische und sozial-ökonomische Vielfalt, und das konsequent bei allen Mitarbeiter:innen bis hin zur Führungsebene. Über diese Definition von Diversität hinaus geht es auch um die Vielfalt in Bezug auf Perspektiven, Denkansätze und Mindsets, auch „Deep Diversity“ genannt. Nur dadurch können Ideen aus allen möglichen Blickrichtungen des Lebens zusammenkommen. Der vielfältige Mix beflügelt kreative Prozesse und macht Unternehmen langfristig erfolgreicher – das belegen inzwischen viele Studien.
Hindernisse erkennen und aktiv angehen
All das klingt durchaus plausibel. Doch warum sieht die Realität oft anders aus? Ganz einfach, weil Diversität so in der Regel nicht gelebt wird. Die Verhaltenswissenschaft liefert dazu einige Antwortansätze. Zum einen wäre da der Status quo Bias: Demnach bevorzugen Menschen Routinen, bei denen Dinge gleichbleiben. Sie tun nichts für mögliche Veränderung und halten an bereits getroffenen Entscheidungen fest. Das liegt mitunter daran, dass Innovation oft ein Gefühl der Unsicherheit auslöst, das uns ausbremst.1
Ebenso wirkt der Affinity Bias hinderlich: Denn wir fühlen uns unbewusst zu Menschen hingezogen, von denen wir glauben, dass sie unsere Interessen, Überzeugungen und unseren Hintergrund teilen. So stellen etwa selbst jene Männer, die glauben, dass sie unvoreingenommene Entscheidungen treffen, mit größerer Wahrscheinlichkeit eher andere Männer als Frauen mit den gleichen Qualifikationen ein.2
Und ein weiteres Hindernis ist der Intention-Behaviour-Gap: Wir sagen das eine und tun das andere. So sagen 80 Prozent aller Männer, dass sie Sexismus verhindern wollen, aber nur 31 Prozent sind selbstbewusst genug, dies auch zu tun.3 Dieses Phänomen kennen wir auch aus vielen anderen Bereichen, beispielsweise bei Nachhaltigkeit und Klimaschutz. Wir alle wissen theoretisch, was wir tun müssen, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, beispielsweise Müll zu reduzieren – doch die eigenen Angewohnheiten und Verhaltensweisen zu verändern, fällt uns schwer.
Bias erkennen, um Veränderung voranzutreiben
Doch was können Unternehmen nun dagegen tun? Zunächst sollten sie diese Bias benennen und erkennen und so ein Bewusstsein dafür schaffen. Im nächsten Schritt geht es darum, aktiv Prozesse und Strukturen anzugehen, um diesen entgegenzuwirken. Einige Unternehmen arbeiten bereits daran, ihr Arbeitsumfeld inklusiver und diverser zu gestalten, zum Beispiel durch fairere Recruiting-Prozesse. Und dann gilt es ganz klar, jeden auch noch so kleinen Erfolg zu feiern – denn letztlich ist der Weg zu mehr Diversität und Inklusion ein Prozess, der nicht von heute auf morgen zum Erfolg führt, sondern sich entwickelt.
Schließlich steht eins fest: Unternehmen, die langfristig erfolgreich sein und die Zukunft mitgestalten wollen, müssen ihre Angst vor Veränderung ablegen. Sie sollten damit beginnen, ihre Hierarchien und Arbeitskultur zu überdenken, Vorurteile zu erkennen und dagegen zu steuern. Denn heute den Fokus auf mehr Diversität und Chancengleichheit zu lenken, sichert den Erfolg von morgen.
Isabelle Schnellbügel ist Vorstandsmitglied des GWA und Mitglied des Executive Boards bei Ogilvy Germany.