Die Welt erlebt gerade die härtesten Prüfungen seit Ende des Zweiten Weltkriegs: Pandemie, Inflation, Ukraine-Krieg, Lieferkettenrisse, Energiepreisexplosion – multiple Krisen setzen Politik und Wirtschaft massiv unter Druck. Zwar steht Deutschland im internationalen Vergleich (noch) relativ gut da, doch auch hierzulande rauschen Konjunktur und Konsumlust in den Keller. Der Handelsverband Deutschland (HDE) schrieb Anfang Oktober von einem „Allzeittief“. Der Negativtrend bei der Verbraucherstimmung halte an. Auch die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) spricht von einem Allzeittief. Für ihr Konsumklima im Oktober nannten die Marktforscher*innen einen Negativwert von –42,5 Punkten und damit noch mal 5,7 Punkte weniger als im September. Die Folge: Immer mehr Verbraucher*innen müssen oder wollen in den kommenden Monaten sparen und bei Kaufentscheidungen vor allem auf den Preis schauen. Schon im August titelte der „Spiegel“ folgerichtig „Geiz ist wieder geil“.
Auch auf Marketing und Werbung hat das heftige Auswirkungen, und auf die Frage, welche Kreationsstrategie in diesen Zeiten die richtige ist. Wird Geiz auch in der Werbung wieder geil? Müssen smarte und innovative Kommunikationsstrategien jetzt wieder einer schlichten „20 Prozent auf alles“-Systematik weichen? Kommen also statt Haltung, Purpose und Diversity auf allen Kanälen Rabattschlachten auf uns zu? Die klare Antwort: Jein.
„Beklemmendes Gefühl“
„Preiskommunikation ja, aber nicht losgelöst von den Themen, die die Menschen neben ihrer finanziellen Sorge bewegen. Reine Preiskommunikation wird nicht die Lösung sein“, sagt Alexander Schill, Global CCO der Serviceplan Group. „Bei der Situation, die da vor uns liegt, geht es nicht ausschließlich um Geld. Auslöser sind nach wie vor eine große Unsicherheit in Bezug auf Corona, ein fürchterlicher Krieg in der Mitte Europas, Angst vor einem Gaslieferengpass und so weiter.“ Dass all das zu einer steigenden Inflation führt und damit verbunden zu höheren Kosten für Haushalte und Unternehmen, sei sehr schlimm und belastend, aber man müsse es in Zusammenhang mit den anderen Themen sehen. „Hier die richtige Balance zu finden, wird die Herausforderung in der Kreation sein“, so Schill.
Andere Top-Kreative sehen das ähnlich. Stefan Schulte, Geschäftsführer Kreation Thjnk Berlin, sagt: „Ich persönlich habe bei der Aussage ,Geiz ist geil, Geiz bleibt geil, Geiz ist wieder geil‘ ein beklemmendes Gefühl. Es verkörpert eine egoistische Haltung, die ich nicht mag.“ Marken sollten sich bewusst sein, in welcher Schublade sie stecken wollen: „Wenn man einmal in der Billigschublade ist, wird es schwer, da wieder rauszukommen.“ Für den Thjnk-Kunden Ikea bedeutet das laut Schulte ganz konkret: „Ich glaube fest daran, dass wir mit Ikea weiterhin Markenkampagnen entwickeln werden. Wir werden aber auch Produkte, die dem Leben der Menschen einen Mehrwert bieten und dabei bezahlbar sind, mit einem Preisstörer unterstützen.
Kreation muss in der Krise zweigleisig fahren
Die kreative Kunst im Krisenwinter 2022 (und vermutlich auch noch in den nächsten Jahren) wird darin liegen, das eine zu tun, ohne das andere zu lassen. Die Marke als Leuchtturm UND als Antwort oder Teil der Lösung für die Sparzwänge (und andere Sorgen) vieler Menschen zu etablieren. Haltungskampagnen und Preiskommunikation müssen oder sollten zumindest kein Widerspruch sein. Noch nie war es in der Kreation so wichtig, Marken authentisch zu positionieren und die Ängste der Konsument*innen ernst zu nehmen. Im Rückblick scheint es fast so, als seien die vergangenen Jahre, in denen Haltung zu einem immer wichtigeren Bestandteil erfolgreicher Kommunikationsstrategien geworden ist, eine Art Warmlaufen für die aktuellen Krisen.
„Die Menschen haben Sorgen, da darf Kommunikation nicht so tun, als wäre das ganze Leben ein Fest. Jetzt sind Sensibilität und Empathie gefragt“, sagt denn auch Christian Rätsch, CEO Saatchi & Saatchi. Im Mai hat seine Agentur den Handelsriesen Rewe als neuen Kunden gewonnen, erst kürzlich ist die neu entwickelte Nachhaltigkeitskampagne #umdenkbar live gegangen. Für Rätsch – wenig überraschend – ein gutes Beispiel dafür, wie Kreation in der nächsten Zeit aussehen sollte. „Natürlich achten die Menschen jetzt auf den Geldbeutel. Gute Angebote werden gerne angenommen. Aber Preiskommunikation heißt ja nicht, die Marke wie sauer Bier anzupreisen“, so der Manager. Bei #umdenkbar würde „Nachhaltigkeit mit Preiswürdigkeit schlau verbunden“.
Anpassungsfähigkeit ist in Krisenzeiten essenziell
Das allerdings funktioniert nur, wenn auch das Produkt passt beziehungsweise – salopp formuliert – passend gemacht wird. Eigentlich eine Binse, aber längst nicht selbstverständlich. Für Thomas, Kreativgeschäftsführer Jung von Matt, ist diese Anpassungsfähigkeit gerade in Krisenzeiten essenziell. „Marken müssen sich und ihre Botschaften an die Konsumlage anpassen“, so Heyen. Wichtiger als das sei es jedoch, sein Produkt auf die neuen Gegebenheiten auszurichten: „Als Konsument*in erwarte ich, dass ,meine Marke‘ eine Lösung anbietet. Ein Wursthersteller, der vegetarische Produkte herstellt. Ein Supermarkt, der Produktalternativen zu Discountpreisen anbietet. Die Marke zeigt, dass sie mich verstanden hat und für mich da ist. In guten wie in schlechten Zeiten.“ An Preiswerbung hat auch Heyen nichts auszusetzen. Das liegt aber sicher weniger daran, dass sein Arbeitgeber Jung von Matt vor schlappen 20 Jahren, also im Jahr 2002, den legendären Claim „Geiz ist geil“ für den damaligen Kunden Saturn erfunden hat. Vielmehr dürfte es daran liegen, dass Heyen heute die Kreation für Kunden wie Sixt, Vodafone und Edeka verantwortet.
Apropos Edeka. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf: Was macht die Krise in diesem Winter mit der Kreation für die sonst so heiß ersehnten Weihnachtsspots? Schließlich hat gerade Jung von Matt gemeinsam mit Edeka in den letzten Jahren immer wieder strahlende Advents-Highlights in Sachen Haltungskommunikation hingelegt. Von #heimkommen im Jahr 2015 bis zu #schneeflocke 2021. Wie also werden die Weihnachtsspots 2022 aussehen? Zwar spricht Thomas Heyen, natürlich, noch nicht konkret über Edeka. Doch er sagt: „Wir dürfen gespannt sein. Ich hoffe auf einen kreativen Umgang mit der derzeitigen Lage. Auf Botschaften, die Zuversicht und Optimismus ausdrücken. Auf Geschichten, die an den Zusammenhalt appellieren. Und ja: Weihnachtsgänse im Angebot werden uns sicherlich häufiger begegnen als vor einigen Jahren.“ Boris Spiel, Executive Creative Director und Member of the Board bei Häppy, bringt das alljährliche Weihnachts-Werbe-Thema hübsch auf den Punkt: „Ich glaube, dass sich am wahrnehmbaren Mix nicht so viel ändern wird. Die einen messen ihre KPIs in Umsatzzahlen, die anderen in Tränen pro Sekunde.“
Werbetreibende sind oft nicht sehr mutig
So oder so – ob es im Krisenwinter 2022 bei ein paar günstigen Weihnachtsgänsen und ein paar mehr Tränen im Werbeblock bleibt, wird sich zeigen. Denn letztlich entscheiden auch über die Kreation in Zeiten des Allzeittiefs die Werbetreibenden, vulgo Agenturkund*innen. Und die sind bekanntlich ein anspruchsvolles, aber oft nicht sehr mutiges Wesen. Nadja Bergelt-Stephan, Teamlead Creative Strategy bei der Münchner Kreativschmiede David+Martin, spricht in diesem Kontext gerne vom „Reflex auf Kundenseite zur Flucht, im Sinne von Flucht in schlechtere aka Preis-Kommunikation“. Sie glaubt: „Auf veränderte Bedürfnisse und Barrieren der Konsument*innen kann man dann auf zwei Weisen reagieren: fight or flight.“ Da sei es dann an den Kreativen, den Kampf zu eröffnen.
Auch Agenturchef Martin Eggert läuft sich für diesen Kampf mit den Kunden schon mal warm. In seiner aktuellen Kolumne für die absatzwirtschaft schreibt er: „Wir wissen, dass Markenverantwortliche nicht primär für Mut an der Marke, sondern für konstanten Absatzerfolg bezahlt werden. Viele Entscheidungen sind deshalb angstgetrieben, aber aus Angst entsteht eben selten Gutes oder gar Großes.“