Steigende Energiekosten und Umsatzausfälle wegen der Konsumflaute bringen den stationären Einzelhandel weiter unter Druck. Vor allem in den Innenstädten könnte sich das Ladensterben in den kommenden Monaten beschleunigen, fürchtet der Handelsverband Deutschland (HDE). Die von der Bundesregierung in Aussicht gestellten Milliardenhilfen gegen hohe Energiekosten müssten deshalb auch den Einzelhändlern zugutekommen. „Ansonsten könnten wir ein Desaster in vielen Innenstädten erleben“, sagt ein HDE-Sprecher und mahnt: „Stirbt der Handel, stirbt die Stadt.“ Gerade in der Krise gelte es zudem, mit Investitionen gegenzusteuern.
Einer kürzlich vom HDE veröffentlichten Umfrage zufolge schränken sich bereits 60 Prozent der Verbraucher*innen beim Einkaufen ein, und gut drei Viertel wollen in den kommenden Monaten den Gürtel enger schnallen. Erneut dürfte es den stationären Mode- und Bekleidungshandel treffen, der seit Jahren schwächelt. Für die gesamte Branche stellt sich der HDE auf ein Umsatzminus von fünf Prozent im zweiten Halbjahr ein – und zwar im Vergleich zu dem bereits pandemiebedingt schwachen zweiten Halbjahr 2021. „In einzelnen Branchen liegt der Umsatz immer noch um bis zu 20 Prozent unter dem Vorkrisenniveau aus 2019“, sagt der Sprecher.
Ideen gibt es viele – aber kein Patentrezept
Doch wie lässt sich der Niedergang in den Innenstädten aufhalten, wenn Händler aufgeben müssen? Ideen dafür gibt es zahlreiche, ein auf alle Kommunen übertragbares Patentrezept aber nicht, so der HDE-Sprecher. Dafür seien die Gegebenheiten vor Ort – vom historischen Stadtkern einer touristisch geprägten Kleinstadt bis zur modernen Großstadt – zu unterschiedlich. Hinzu komme: „In der derzeitigen akuten Krise wird das alles noch ein Stück schwieriger. Die Geldtöpfe werden sicherlich erst einmal nicht voller.“ Wenn die Konzepte funktionieren sollten, müssten alle Akteure in den Kommunen zusammenarbeiten – von Rathausspitze über Stadtmarketing, Einzelhandel und Gastronomie bis zu kulturellen Anbietern sowie Bürgerinnen und Bürgern.
In Hessen hatte beispielsweise Hanau mit dem Konzept „Hanau aufLADEN“ von sich reden gemacht. Als Kernelement umfasst es ein Vorkaufsrecht, mit dem sich die Stadt ein Erstzugriffsrecht auf Immobilien in Innenstadtlagen sichert. Davon habe man erst einige wenige Male Gebrauch gemacht, sagt der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky. „Allein dass die Eigentürmer wissen, es gibt die Vorkaufsrechtssatzung, gibt uns eine Chance, ins Gespräch zu kommen und vertragliche Vereinbarungen zu schließen, was dort künftig stattfindet.“ Alternativ zum Kauf kann die Stadt auch Immobilien anmieten und an geeignete Unternehmen untervermieten. Weitere Elemente sind ein Konjunkturprogramm zur Aufwertung von Fassaden sowie Zuschüsse für Betreiber neuer Läden.
Mit der Zeit will Hanau so eine Mischung aus inhabergeführtem Handel und Filialisten, aus Gastronomie, Veranstaltungen, Märkten und neuen, kreativen Konzepten wie Pop-up-Handel und -Gastronomie etablieren. Das noch vor der Pandemie auf den Weg gebrachte Konzept werde gut angenommen – trotz der Krise habe es auch in den vergangenen Tagen mehrere Neueröffnungen gegeben, sagt Kaminsky.
Modellprojekt „Stadtlabore für Deutschland“
Die Stadt im Osten des Rhein-Main-Gebiets ist auch eine von 14 deutschen Modellstädten, die im Projekt „Stadtlabore für Deutschland“ eine digitale Plattform für Ansiedlungsmanagement erarbeiten. Dazu gehören beispielsweise auch Karlsruhe, Erfurt, Nürnberg, Lübeck und Rostock. Basis für die Plattform seien vielfältige Daten, etwa zu expansionswilligen Unternehmen, zum aktuellen Besatz und leerstehenden Flächen in den Städten, zur Passantenfrequenz und vielen weiteren Themen, sagt Eva Stüber vom Kölner Institut für Handelsforschung. Immobilie sucht Traumnutzung – die Plattform solle wie eine Art „Tinder“ für die Innenstädte funktionieren und deren aktive Gestaltung mit ganzheitlichen Ansätzen ermöglichen.
Auch Stüber hält eine stärkere Durchmischung aus Wohnen, Arbeiten, Handel, Kunst und Kultur, Gastronomie und Begegnung für das beste Rezept gegen die Krise. Der Lockdown mit monatelangen Schließungen habe gezeigt, dass die Innenstädte auch nicht-kommerzielle Aufenthaltsbereiche haben müssten. Mehr Kreativität sei gefragt, um lebendige Begegnungsorte zu erhalten – wie im nordrhein-westfälischen Haan, wo sich ein Ferienspielgelände in den Sommerwochen zu einem Beach Club mit Strandkörben, Künstlerdarbietungen und Partys verwandelt. Auch andernorts sind neue Konzepte in Arbeit, etwa in Bremen, wo ein Wettbewerb für Pop-up-Stores initiiert wurde, oder in Nürnberg, wo Projektteams daran arbeiten, die Innenstadt lebendiger zu machen.
Für den Deutschen Städtetag zielen solche Initiativen in die richtige Richtung. „Wo Handel geht, wird nicht überall neuer Handel kommen“, sagt Verena Göppert, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin des Verbandes. „Deshalb wollen wir in unseren Stadtzentren neue und bekannte Nutzungen mischen.“ Handwerk, Kunst, Bildung und auch Wohnen sollten zurück in die Innenstädte kommen. „Das neue Miteinander und den Mix an Funktionen wollen die Städte gestalten, gemeinsam mit Vermietern, Unternehmen, der Kultur und allen anderen Akteuren vor Ort.“ 250 Millionen Euro habe der Bund einmalig für Modellprojekte bereitgestellt. „Das war ein guter Anfang. Daraus muss ein verlässliches Förderprogramm über einen längeren Zeitraum werden. Denn Innenstädte bleiben das Herz des städtischen Lebens“, sagt Göppert.
Von Christine Schultze, dpa