Was halten Sie von einem 18. UN-Nachhaltigkeitsziel? Nämlich einem, das sich um den Schutz von Qualitätsmedien kümmert? Um die fundierte Ausbildung des journalistischen Nachwuchses? Um die Stärkung der Medienkompetenz in der Gesellschaft? Um die Abwehr von Desinformation und Hassrede? Was halten Sie davon, wenn Unternehmen künftig in ihre Nachhaltigkeitsberichte schreiben, dass sie sich um den Erhalt der Demokratie kümmern – indem sie Teile ihres Werbebudgets in Value Media investieren? Oder weil sie, ähnlich wie bei CO2-Emissionen, ihre Werbeausgaben in Big Tech kompensieren? Zum Beispiel, indem sie Projekte zum Umgang mit Fake News in Schulen finanzieren? Was halten Sie davon, wenn sich Marken, Werbungtreibende und Agenturen mit ihren Budgets dafür einsetzen, dass die Medienvielfalt erhalten bleibt?
Nicht bloß eine gute Tat – auch nützlich für die Marke
Naive Wunschträume einer mittelalten frustrierten Ex-Print-Journalistin? Von wegen!
Anfang November trafen sich in Hamburg beim IU-Symposium rund 100 Fachleute und überwiegend sehr hörenswerte Referent*innen, um über das Thema „Sustainable Media & Brand Management – Nachhaltige Mediastrategien für eine werthaltige Markenführung“ zu sprechen. Initiatorin war Lisa-Charlotte Wolter, Professorin und Leiterin des Studiengangs Online Marketing an der IU. Wolter initiierte nicht nur das Symposium, sondern betreut seit Anfang 2022 in Kooperation mit der University of Florida (UF), dem Consortium on Trust in Media and Technology und dem Praxispartner Mediaplus Group das Forschungsprojekt SuMM, Sustainable Media Management.
Hier geht es mitnichten um eine Diskussion aus dem akademischen Elfenbeinturm, sondern um ein wirklich wichtiges Thema. Das war schon nach wenigen Minuten der ebenso kurzweiligen wie furchteinflößenden Keynote von Medienwissenschaftler Martin Andree klar. Er hat im August das Buch „Big Tech muss weg!“ veröffentlicht und plädiert – Sie ahnen es – für die Zerschlagung der Digitalkonzerne. Es gibt, so seine Klage, keinen freien Wettbewerb mehr im Markt der digitalen Medien. Das freie Internet sei längst abgeschafft, weil Monopolisten den Traffic absaugen. Seine Prognose: Der Trend wird sich verstärken. Und wenn das passiert, werden die großen Tech-Plattformen in nicht allzu ferner Zukunft die politische Öffentlichkeit kontrollieren – und ganz nebenbei europäische Gesetze missachten, keine Steuern zahlen und unsere Demokratie ruinieren.
Was das mit Nachhaltigkeit zu tun hat?
Wem das Demokratie-Argument zu pathetisch ist, sollte an sein Business denken: Lisa-Charlotte Wolter kann mit ihren Untersuchungen glasklar belegen, dass zum Beispiel nachhaltiges Targeting nicht nur gut für Nutzer*innen, Premiummedien und die Umwelt ist, sondern auch für die Marke. Vertrauen in Medienumfelder überträgt sich nämlich immer noch auf die dort platzierte Werbung. Also ist der Wissenschaftlerin zufolge „die effizienteste Strategie: Bewusste Kontakte in starken Umfeldern – Klasse statt Masse!“
Gemeinsam mit ihrem Team hat die Professorin in den vergangenen Monaten etliche Interviews mit Werbungtreibenden über „Nachhaltige Mediastrategien“ geführt. Ein Ergebnis: Viele machen sich Sorgen über die Medienumfelder, aber nur wenige haben bislang über ihre Verantwortung nachgedacht. Dabei, sagt Wolter, „geht es nicht unbedingt darum, dass man zu 100 Prozent aus bestimmten Kanälen aussteigt. Wenn die Zielgruppe auf TikTok unterwegs ist, muss auch die Marke auf TikTok unterwegs sein. Aber vielleicht müssen nicht 100 Prozent des Budgets in diese Kanäle fließen – und wenn doch: Wie kann an anderer Stelle ausgeglichen werden?“
Die Zeit drängt
Ziel des Forschungsprojekts ist es, „ein Umfeld zu schaffen, das jeden – vom Marketingentscheider bis zum individuellen Mediennutzer – dazu befähigt, wertebasierte Entscheidungen in unserer Medienrealität zu treffen“. Als nächstes soll ein Manifest zur Datenethik entstehen und eine Initiative zur Formulierung eines 18. Nachhaltigkeitsziels, siehe oben, starten. Die Zeit drängt, denn die Verzwergung der Medienlandschaft ist in vollem Gange.
Wolter trifft mit ihrem Engagement auf offene Ohren. Manfred Kluge, Chairman von Omnicom, schrieb zu dem Symposium in einem Post auf LinkedIn: „Wir werden alle in der Branche sehr schnell merken, dass der Erhalt der Medienvielfalt und damit einhergehend ethischer Journalismus sowie der entschlossene Kampf gegen Hate Speech, Fake Bews, Disinformation und Content Bubbles ganz oben auf die Agenda gehört. Und wer das als Medium oder Plattform nicht ernst nimmt, gehört abgestraft.“
Media Matters … nicht nur for America
Und, ach, es würde uns viel verloren gehen, ohne unsere Qualitätsmedien. Zum Beispiel Recherchen rund ums Thema Nachhaltigkeit, wie die aus der Printausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ am Dienstag: „Auf der Palme. Deutsche Konzerne versprechen ihren Konsumenten nachhaltiges Palmöl. Doch für Beiersdorf wurde Regenwald für den Rohstoff abgeholzt.“ Oder der Artikel „Faustrecht der Bilder“. Der müsste eigentlich Schullektüre sein, weil er beschreibt, wie die Hamas und deren Anhängerschaft (darunter plötzlich auch Modebloggerinnen und Astrologie-Influencerinnen) Social Media für ihre Lügen missbrauchen und Millionen Menschen via TikTok, Instagram & Co. mit widerlichster antiisraelischer Propaganda manipulieren. Oder der Text „Gegen Mordfantasien im Netz“ über die Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) gegen Meta. Die DUH will Hass und Gewaltaufrufe in Facebook-Gruppen nicht mehr hinnehmen.
Üble Umfelder für Werbung auf X
Vermutlich – nur so ein Gefühl – stört es die großen Plattformen mehr als die Klagen aus diesem ja ohnehin datenrechtlich so anstrengenden Old Europe, wenn es ihnen ans Portemonnaie geht. Wie bei X. Dort stoppten IBM, Apple, Disney, Paramount und der Warner-Konzern ihre Werbung wegen antisemitischer und nationalsozialistischer Inhalte, die absatzwirtschaft berichtete. Auslöser war die Recherche der Organisation „Media Matters for America“. Sie hatte gezeigt, in welch üblen Umfeldern die Werbung der Unternehmen erscheint. X reichte am Montag Klage gegen die Organisation ein. Seufz. Liebe Marketing- und Mediaverantwortliche, bitte haben Sie ein wachsames Auge darauf, wem Sie Ihr Geld geben.
Danke, auch im Namen der Demokratie!