Kommunikation 50plus – sieben Thesen

Werber entdecken mit der Generation 50plus eine neue Spezies wie Anthropologen einen unerforschten Stamm. Das findet die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Margot Berghaus.

von Prof. Dr. Margot Berghaus

These 1: Kommunikation ist altersunabhängig allgemein menschlich. Zwischen 30- und 60jährigen gibt es mehr Übereinstimmungen als Unterschiede. Gravierender als Unterschiede zwischen Jung und Alt sind die unterschiedlichen Auffassungen von Kommunikation.

Längst als tot und begraben geltende, senderdominierte Auffassungen von Kommunikation, altmodische Stimulus-Response- und einseitige Ursache-Wirkungs-Auffassungen werden anscheinend wiederbelebt. So sind Formulierungen nach dem Muster „Die Kampagne kommuniziert die Botschaft…“ an der Tagesordnung. In einer ARD-Fernsehsendung über die Wiederentdeckung der Senioren äußerte der Vertreter einer bekannten Werbeagentur: „Es geht gerade bei den großen Marken darum, eine Kommunikation zu schaffen, die aus der Marke, aus den Markenwerten entwickelt wird.“ Aber eine Kampagne, eine Werbung, ein Sender, ein Anbieter kann nicht kommunizieren – höchstens kommunizieren wollen (oder kommuniziert haben, wenn Befunde vorliegen). Die entscheidende Instanz, die Kommunikation entstehen lässt, ist der Rezipient. Vielleicht sind solche senderdominierten Formulierungen wie oben zitiert bloß gewohnheitsmäßig eingespielte Redeweisen, ohne dass man es inhaltlich so meint; ähnlich wie man immer noch sagt „Die Sonne geht auf“, obwohl man weiß, dass nicht die Sonne sich bewegt, sondern die Erde. Aber vielleicht kommt hier doch ein falsches Kommunikationsverständnis zum Ausdruck, in dem Rezipienten als abhängige Größe gesehen werden: Konsumenten als manipulierbare Objekte; ältere Menschen als manipulierbare Objekte junger Marketingteams.

These 2: Was am Altern ins Auge springt und Produktanbietern ins Auge sticht – weil es Absatzchancen eröffnet – sind die Defizite des Alters. Aber Menschen sind weder durch ihr Alter noch durch ihre Defizite hinreichend charakterisiert.

In allen Befragungen äußern sich über 50jährige gleich: Ich fühle mich viel jünger, als ich faktisch bin. Die Differenz zwischen gefühltem Alter und faktischem Alter beträgt zwischen 7 und 15 Jahren. Nicht einmal 70- bis 75jährige bezeichnen sich mehrheitlich als Senioren. Die Betroffenen lehnen eine Definition ihrer Person primär über das Alter ab, weil dies ihre Wirklichkeit nicht trifft. Mit einem Etikett wie „Generation 50plus“ spricht man sie nicht an. Wenn man von Personen nur ihr Alter weiß, weiß man so gut wie nichts über sie.

Die Reduktion auf das Alter ist gern begleitet von einer Reduktion auf die Schwächen des Alters. Der Ablauf im Lebenszyklus von der Kindheit bis zum Alter ist aber in allen Epochen und Gesellschaften ein normaler Prozess. Jede Stufe im Zyklus hat neben typischen Schwächen auch typische Stärken. Schon Seneca wusste in „De Senectute“ (in meiner Schulzeit noch jugendlich-arrogant übersetzt mit: Vom „Greisen“-Alter) Positives am Alter zu loben, nämlich Autorität und Ausstrahlung als Ernte eines gut geführten Lebens. Die Defizite des Alters haben wohl die peinliche Eigenschaft, auf den ersten Blick sichtbar zu sein: Graue Haare (daher „Silver Customer“), Glatze, Falten, Sehschwäche, Verlust von Körperkraft und Schnelligkeit, Gelenk- und Figurprobleme. Die Stärken dagegen bleiben zunächst unsichtbar. Um sie zu bemerken, muss man ältere Menschen schon etwas näher kennenlernen: Erfahrung, sprachliche Gewandtheit, soziale Kompetenz, Verantwortungsbewusstsein, Zuverlässigkeit, Besonnenheit, Ausgeglichenheit. Verständlich, dass Unternehmen und Marketing mehr Interesse an den Schwächen haben, weil sich damit etwas verkaufen lässt, während die Stärken weniger Ansatzpunkte für Geschäfte bieten. Das provoziert jedoch manchen Tunnelblick.

These 3: Das Alter erklärt sich aus der Stellung im Lebenszyklus (Generationen-Effekt) und aus den gemeinsamen Lebenserfahrungen von Geburtsjahrgängen (Kohorten-Effekt). Je älter eine Zielgruppe ist, desto mehr ist dieser Unterschied zu beachten.

Namen wie „Silver Customer“ und solche mit „old“ oder „50plus“ verweisen auf Alter im Sinne von Generation (wie in These 2 diskutiert), „Alt-68er“ und „Baby Boomer“ auf die Kohorte. Generationen-Effekte sind stabiler, Kohorten-Effekte variabel.

Dass 50plus in Mode kommt, ist ein Kohorten-Effekt. Stichworte sind: demografischer Wandel, Überalterung der Gesellschaft, Rentenlücke, reiche Alte und Erbengeneration. Nach geburtenstarken Jahrgängen folgen geburtenschwache; immer weniger Arbeitende müssen für immer mehr Rentner mit stetig steigender Lebenserwartung die Rente erwirtschaften. Die Alten haben die dicksten Sparguthaben und das meiste Geld in der Tasche.

Auch bei der Bildung, im Geschlechtsrollenverständnis, bei der Mediennutzung und Einstellung zur Werbung sind Kohorten-Effekte wirksam. Beispielsweise besteht bei über 60ährigen ein Bildungsgefälle zwischen Männern und Frauen, aber dies nimmt von Jahrgangsstufe zu Jahrgangsstufe ab. Ähnlich beim Umgang mit Computer und Internet: Manch junge Marketingleute halten die hier bestehenden Unterschiede zwischen Jung und Alt und innerhalb der Älteren zwischen Männern und Frauen für stabile, generationsbedingte Muster. Es sind jedoch sozialisationsbedingte Kohorten-Einflüsse, die in den nächsten Jahren peu à peu schwinden. Das Internet kann also zunehmend auch als Marketing-Instrument für Ältere eingesetzt werden wie jetzt für Jüngere, für Frauen wie jetzt für Männer. Falls die These von der digitalen Spaltung der Gesellschaft überhaupt stimmt, dann verläuft die Grenze jedenfalls anderswo, z.B. zwischen den Schichten.

These 4: Kommunikation besteht aus einer Kette von Selektionen. Bei Marketing und Werbung geben Generations- und Kohorten-Kriterien die Rahmenbedingungen dafür vor, was Marketeers sinnvollerweise für die ältere Zielgruppe selektieren.

Konventionell wird Kommunikation aufgefasst als Verständigung, Herstellung von Gemeinsamkeit, Konsens. Die Systemtheorie dagegen argumentiert mit Differenz, nämlich der ständigen Selektion zwischen ja und nein (vergl. Niklas Luhmann). Mit dieser Auffassung kommt man weiter.

Selektivität prägt den gesamten Kommunikationsprozess. Auf der Anbieterseite bei Marketing und Werbung wird zunächst reflektiert und differenziert, was zum Potenzial einer Marke, eines Produkts oder einer Dienstleistung gehört und was nicht. Dann, was davon in eine Kampagne umgesetzt wird und was nicht; wie und wie nicht. Generations- und Kohorten-Aspekte ziehen die Grenze zwischen dem, was grundsätzlich möglich ist und was nicht. Generations-Anforderungen sind beispielsweise: Große, klare Schrift; übersichtliche Farbgestaltung eher in Rot-Gelb- als Grün-Blau-Tönen (da letztere bei grauem Star schlechter diskriminiert werden); in TV- und Radio-Spots sehr gute Akustik und eine Abfolge ohne Hektik; bei Verpackungen leicht zu öffnende Verschlüsse. Kohorten-Anforderungen sind: Bester Service (weil ältere Jahrgänge auf Verlässlichkeit hin sozialisiert sind); bei Technikgeräten einfache Gebrauchsanweisungen mit vorangestellter Kurzfassung (weil Ältere anders als Junge die Regel gelernt haben, unbekannte Geräte mithilfe der vorgeschriebenen Bedienungsanleitung zu erobern statt durch Ausprobieren); im gesamten Mode- und Lebensstil eine Orientierung an passenden Jahrgangsstufen.

Solche Selektions-Kriterien stecken lediglich die Grenzen ab, innerhalb derer sich die Aktivitäten von Marketing und Werbung entfalten können und außerhalb derer sie verschwendet wären. In diesem Rahmen ist Raum für unendlich viele unternehmerische und kreative Entscheidungen nach anderen, nicht altersbezogenen Kriterien.

These 5: Bei Rezipienten und Konsumenten ist die erste Selektionsstufe: Aufmerksamkeit. Hier liegen Pluspunkte der Werbe-Kommunikation. Aufmerksamkeitsfänger sind allgemein-menschliche, erst danach altersspezifische Faktoren.

Aufmerksamkeit erregen, Bekanntheit erzeugen, kognitive Wirkungen erzielen – darin liegen die Stärken von Werbe-Kommunikation. Dass den Anbietern dieses gelingt, ist das Nadelöhr für sämtliche weitere, erwünschte Anschlussakte. Diese Erkenntnis ist nicht neu; schon das alte AIDA-Modell hatte Aufmerksamkeit als Basis. Der Engpass hat sich aber mit der Zunahme von Medienformen und -titeln verschärft. Heute ist Aufmerksamkeit ein so kostbares Gut, dass die Ökonomie des Geldes von der Ökonomie der Aufmerksamkeit übertrumpft wird. Für eine bestimmte Quantität an Konsumenten-Aufmerksamkeit muss eine immer größere Quantität an Geld aufgewendet werden.

Was erregt Aufmerksamkeit? Allgemein-menschliche Faktoren – unabhängig vom Alter – stehen sicher an oberer Stelle. Dazu gehört alles, was in der Verhaltensforschung AAM (allgemeine Auslöse-Mechanismen) und EAAM (durch Erworbenes ergänzte allgemeine Auslöse-Mechanismen) genannt wird: Visuelle Reize, Bewegungen, Gesichter, Augen, Blickkontakt, physische Schönheit, sexuelle Signale, Kindchen-Schema, Ausdruck von Emotionen usw. Die Medienforschung zählt speziell für Nachrichten die sogen. Nachrichtenfaktoren auf: Prominenz und Status, Negativität (Konflikte, Katastrophen, Skandale, Normverstöße), Nähe und Relevanz (räumlich, kulturell, sozial und individuell), auffallende Quantitäten und Ereignisse, die sich moralisch kommentieren lassen.

Die Werbung benutzt daraus Motive, indem sie sie einsetzt und gleichzeitig bricht. Die Formel ist: Irritation des Erwarteten und Vertrauten. So können am Schluss doch noch Alters-Aspekte ins Spiel kommen. Denn im Detail ist das Erwartete und Vertraute von den bisherigen Erfahrungen mit bestimmt, unter anderem den typischen Erfahrungen der Alters-Kohorte.

These 6: Die nächste Selektionsstufe ist: Zustimmung. Hier liegen Schwachpunkte der Werbe-Kommunikation. Denn da Kommunikation Vor-Selektiertes vermittelt, provoziert sie auch Zweifel – bei Jüngeren und noch mehr bei Älteren.

Zustimmung erregen, Sympathie erzeugen, Vertrauen einflößen, Meinungswirkungen erzielen – darin liegen die Schwächen von Werbe-Kommunikation. Hier hat Kommunikation überhaupt Probleme. Denn jede Mitteilung – Nachricht, Werbeaussage oder welches Kommunikationsangebot auch immer – beruht auf Selektionen, die jemand anderes getroffen hat. Man kriegt also nur Vor-Selektiertes. Und es ist einem mehr oder weniger bewusst, dass der Mitteilende auch etwas anderes hätte auswählen können. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen einer Mitteilung und der eigenen, direkten Wahrnehmung. So wird Kommunikation ständig von einem leisem Zweifel wie von einem Schatten begleitet: Hat der andere richtig und angemessen ausgewählt? Nichts Wichtiges weggelassen? Vielleicht irrtümlich oder bewusst etwas verschwiegen, um mich in bestimmter Weise zu beeinflussen? Der Kardinalverdacht gegen die Massenmedien und speziell gegen die Werbung, sie würde Rezipienten durch Teil-Informationen manipulieren, steckt als Keim in jeder Art Kommunikation. Der Witz ist, dass dieser Verdacht überhaupt nicht kommunikativ auszuräumen ist, denn er beruht auf der Selektivität der Kommunikation, und die Selektivität ist aus der Kommunikation nicht auszuräumen. Es ist sogar paradox: Je mehr man seine Aufrichtigkeit beteuert, desto mehr Zweifel setzt man in Gang.

Im Alltag ist das kein Problem, denn Zweifel lassen sich durch einen Mehrwert überwinden, der über schiere Kommunikation hinausgeht: Vertrauensvorschuss. Der wächst aus Nähe, menschlichem Gegenüber, Anschauen und Ansehen (im doppelten Wortsinn), Anfassen, Kennen, Bindung, Intuition, Gefühl und Gemeinsamkeit in vertrauten Netzwerken. Das sind aber Potenziale, die den Massenmedien und der Werbung nicht ohne weiteres zur Verfügung stehen.

Erschwerend kommt hinzu, dass Kommunikationserfahrung den Zweifel nährt. Die heutige Gesellschaft mit extrem vielen Medienangeboten äußert sich signifikant skeptischer gegenüber Medienaussagen als die Gesellschaft der 60er Jahre. Bei Älteren wirken sich ihre höheren Lebenserfahrungen skepsis-verstärkend aus. Keine guten Ausgangsbedingungen, wenn nicht bloß kognitive Wirkungen (Bekanntheit), sondern auch Meinungswirkungen (Zustimmung) erzielt werden sollen.

These 7: Vertrauen entsteht in direkten sozialen Beziehungen; zu Werbung und Marketing in parasozialen Beziehungen. Archaisches „Mögen“ reduziert moderne Komplexität. Allen Formen, die soziale Nähe herstellen/simulieren, gehört die Zukunft.

Werbung und Marketing können zwischenmenschliche Nähe, in der Vertrauen entsteht, nach-konstruieren. So anstelle von direkten sozialen Beziehungen ersatzweise quasi soziale, parasoziale Beziehungen aufbauen; anstelle von Face-to-Face-Augenkontakt Quasi-Augenkontakte durch Blick in die Kamera; anstelle von echten Bezugspersonen Avatare und Testimonials; anstelle von echten Netzwerken das Buzz-Marketing der Mund-zu-Mund-Propaganda usw.

Die Gebrüder Gottschalk, Heidi Klum und Günter Jauch zählen zu den stärksten Marken Deutschlands. Wenn man Menschen mag, kauft man ihnen so ziemlich alles ab. Noch heute ärgere ich mich, auf Manfred Krugs Empfehlung der Telekom-Aktie hereingefallen zu sein. Der Verstand weiß es besser, aber das Gefühl siegt. Was hier wirksam ist, sind archaische, primitive Verhaltensstrukturen, die seit Jahrmillionen unser Überleben gesichert haben und die nach wie vor in einem Augenblick (Blick!) über Freund- oder Feindschaft, Mögen oder Nichtmögen, Vertrauen oder Rückzug entscheiden lassen. Es handelt sich um eine weitaus mächtigere Art von Alter als das bisher besprochene: Das Alter des evolutionären Erbes in uns. Eine entwicklungsgeschichtlich junge, noch so potente Errungenschaft wie die Vernunft hat dagegen wenig Chancen. Im Gegenteil: Je komplexer unser Leben und unsere Umwelt, je vielfältiger die Wahlmöglichkeiten und je größer der Selektionsdruck, desto eher greifen vorrationale, archaische Strukturen. Vertrauen – schlicht und einfach auf der Basis „ich mag es“ oder „jemand, den ich mag, mag es“ – ist ein wirkungsvoller Mechanismus zur Reduktion von Komplexität.

Werbung und Marketing simulieren die Sphäre vertrauensbildender menschlicher Nähe in zahlreichen Varianten. Aber wesentlich mehr wäre möglich. So ist die breite Spanne zwischen Prominenten als Testimonials einerseits und schlichten Kunstfiguren der Werbung andererseits (Cappuccino-Mann, Herr Sommer, Ratiopharm-Zwillinge) überhaupt nicht ausgeschöpft. Beispielsweise ließen sich authentische, unprominente Personen, Familien oder Gruppen einschließlich echten Details ihres Lebens einsetzen und vielerlei Geschichten mit ihnen erzählen. In den USA macht Columbia Sportswear es seit 20 Jahren vor: Die Mutter des CEO Timothy Boyle versetzt ihren Sohn immer wieder in Extremsituationen, wodurch dieser zwangsläufig die Robustheit seiner Sportkleidung unter Beweis stellt – „tested tough“. Ma Boyle geht nun mit 81 in den Ruhestand. Aber die Generation 50plus bildet ein unendliches Reservoir für solche authentischen Personen mit schönen Geschichten.

Das Internet ist ideal, um direkte Nähe zu Kunden herzustellen. Werbung und Marketing können Communities und Weblogs initiieren, dafür Anchor-Personen gewinnen, soziale Informations- und Plaudernetze über bestimmte Themen im Umkreis der eigenen Marke (also nicht auf sie beschränkt) im Web sponsern usw. Die Generation 50plus ist davon nicht auszuschließen. Man muss lediglich ihre besonderen Rahmenbedingungen – klares Design, leichte Navigation und altersgerechte Inhalte – beachten.

Autorin:
Prof. Dr. Margot Berghaus ist Professorin für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim.

eingestellt am 25. Juni 2006