Dank der Energiewende lernen wir neue Begriffe, zum Beispiel „Wasserstoffhochlauf“. Gemeint ist der Einstieg in eine – möglichst grüne – nationale Wasserstoffproduktion, als Voraussetzung für den klimaneutralen Umbau der Volkswirtschaft. Vor allem die Grundstoffindustrie ist darauf angewiesen, sofern im Produktionsablauf sehr hohe Temperaturen erzeugt werden müssen wie bei der Glas-, Stahl- oder Papierherstellung. Das nämlich geht mit grünem Strom nicht. Aber auch für Konsumgüter ist das Thema relevant, denn ihre Ökobilanz fällt nur dann glaubwürdig gut aus, wenn die vorgelagerte Industrie klimaschonend produziert.
Pionieranwendungen bei Schott und Essity
Schon jetzt experimentieren Unternehmen damit, Erdgas durch Wasserstoff zu ersetzen: Glashersteller Schott beispielsweise setzt H2 versuchsweise im Schmelzprozess ein – „absolute Pionierarbeit für die Glasindustrie“, sagt der Konzern. Papierhersteller Essity – zu seinen Marken zählen Tempo, Zewa und Danke – verwendete grünen Wasserstoff kürzlich erstmals zur Trocknung von Tissues, wodurch sich der CO2-Ausstoß des Werks in Mainz-Kostheim jährlich um bis zu 37.000 Tonnen reduziert, ein Viertel der Gesamtemissionen. Essity würde das Verfahren gern ausrollen, vermisst aber den „schnellen und pragmatischen Aufbau einer lokalen, regionalen und internationalen Wasserstoff-Infrastruktur in Deutschland“.
Habeck gibt Geld für den Ausbau von Kapazitäten
Genau das ist die Kernfrage: Woher soll der begehrte, in rauen Mengen benötigte Energieträger plötzlich kommen? Eine politische Antwort gibt der Werkstattbericht „Wohlstand klimaneutral erneuern“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz: Dank großzügiger Förderung sollen sich die Elektrolysekapazitäten bis 2030 mehr als verdoppeln, auch für Pipelineprojekte gibt es Geld. Und damit der Ausbau zügig vorangeht, soll ein „Wasserstoffbeschleunigungsgesetz“ verabschiedet werden. Noch so ein schönes neues Wort.
Projekt im Industriepark Limburg: H2 aus Restmüll
Interessant ist vor allem, was sich in der Praxis tut. Nämlich überraschend viel. RWE zum Beispiel will 600 Millionen Euro in ein Projekt namens „Fuse Reuse Recycle“ (FUREC) investieren mit dem ambitionierten Ziel, nicht nur grünen, sondern auch zirkulären Wasserstoff zu erzeugen – aus Müll, der sich nicht anders verwerten lässt. Er soll in einem Industriepark im niederländischen Limburg zu Pellets verarbeitet werden. In einer zweiten Anlage werden diese in Wasserstoff umgewandelt, der vor Ort genutzt werden kann. CO2-Einsparung: jährlich 400.000 Tonnen. Der EU-Innovationsfonds gibt 108 Millionen Euro dazu.
Elektrolyse vor Helgoland und in Duisburg-Walsum
Einen anderen Weg geht ein Verbund von rund 100 Unternehmen und Organisationen – darunter BP, Eon, Linde und Shell – mit dem Projekt Aquaventus: Im Meer vor Helgoland will es Windräder und Elektrolyseure zu – noch eine Wortschöpfung – „Windwasserstoffanlagen“ verbinden. Per Pipeline gelangt der Wasserstoff dann auf die Insel, so der Plan. Stahlhersteller Thyssenkrupp wiederum hat eine Vereinbarung mit dem Energieversorger Steag getroffen, in Duisburg-Walsum grünen Wasserstoff per Wasserelektrolyse zu gewinnen und von dort direkt in – nein, nicht in einen Hochofen, sondern in eine Direktreduktionsanlage zu leiten. Was das ist und warum es sich um eines der weltweit größten industriellen Dekarbonisierungsprojekte handelt, steht hier. Die ersten Lieferungen könnten 2025 erfolgen.
Universitäts-Spin-Off mit neuer Technik und frischem Kapital
Nicht nur die alten Industriekonzerne wagen sich in die neue Welt des Wasserstoffs. Greenlyte, ein Universitäts-Spin-off aus dem Ruhrgebiet, will gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Mit einer neuen Technik wird klimaschädliches Kohlendioxid aus der Luft abgeschieden und in die Elemente Wasserstoff und Kohlenstoff verwandelt, die industriell genutzt werden können. Angeblich ist das bereits patentierte Verfahren vier bis fünf Mal effektiver als alle anderen. „Essener Start-up revolutioniert CO2-Reduktion“, jubelt bereits die Essener Wirtschaftsförderungsgesellschaft. Na ja. Erstmal wird eine Pilotanlage gebaut. Dafür haben die Gründer soeben 3,5 Millionen Euro von Investoren eingesammelt, darunter Earlybird und Carbon Removal Partners, ein auf CO2-Entnahme spezialisierter Venture Capital Fonds aus Zürich. Allen Klagen von Start-ups zum Trotz: Für überzeugende grüne Projekte steht, trotz steigender Zinsen, weiterhin privates Kapital zur Verfügung.
Eine gute Woche noch, und behalten Sie die Zukunft im Blick!