„Ablasshandel“, „Greenwashing“, „Verbrauchertäuschung“ – so lauteten schon immer Vorwürfe an Unternehmen, die mithilfe von Zertifikaten ihre Treibhausgasemissionen kompensieren. Dabei gibt es sehr gute Gründe, Emissionen zu kompensieren, wenn Unternehmen ihren eigenen Ausstoß momentan nicht weiter vermeiden oder reduzieren können.
Im Januar deckten Recherchen von „Zeit“, „Guardian“ und „SourceMaterial“ allerdings Tricksereien rund um die Zertifikatvergabe des weltweit führenden Zertifizierers Verra auf. Demnach könnten 90 Prozent der von Verra für die Kompensation ausgelobten Waldschutzprojekte wirkungslos sein. Auch die „WirtschaftsWoche“ berichtete über zweifelhafte Praktiken. Die Debatte rückte etliche Kompensationsprojekte in trübes Licht – und mit ihnen Labels wie „klimaneutral“, „klimapositiv“ oder „CO²-neutral“, die auf diesen Zertifikaten beruhen und auf mittlerweile vielen Produkten prangen. Das wiederum befeuerte die Forderungen, die Labels wegen Irreführung der Verbraucher*innen zu verbieten.
Ernsthaftes Bemühen vs. Greenwashing
„Die Unsicherheit wird mit jeder Berichterstattung noch größer, als sie vielleicht ohnehin schon ist“, sagt Marco Peters, Chef der Münchner Beratung Nextwork, die Unternehmen unter anderem bei der B-Corp-Zertifizierung unterstützt. Mit der Diskussion um Siegel, Labels & Co. würden auch all diejenigen Unternehmen, die sich nach Kräften um Klimaschutz und Nachhaltigkeit bemühen, mit Greenwasher*innen in einen Topf geworfen. „Das ist unfair“, so Peters weiter. Allerdings können sich derzeit selbst solche Unternehmen das „klimaneutral“-Label auf ihre Produkte drucken, die eine schnöde Selbstauskunft gegeben haben. Peters fordert deshalb Zertifikate, denen valide externe Assessments zugrunde liegen.
Noch ist das Zertifizierungsprocedere häufig intransparent. Im Sommer 2022 changierte der CO²-Preis pro Tonne zwischen zehn und 50 Euro – womit nicht nur der Preis, sondern offenbar auch die Qualität und Redlichkeit von Kompensationsprojekten eine große Spanne aufweist. Die Folge: „Inflation und Verramschung der Labels und damit nachlassende Motivation bei den Konsument*innen“, sagt Jan Pechmann, Gründer der frisch gestarteten Beratung „BAM! Bock auf Morgen“. Das einzig Gute: Die aktuelle Debatte könnte dazu führen, dass neue, verbindliche und überprüfbare Standards ins Kompensations-Geschäft einziehen.
Erst einmal aber haben Marketingverantwortliche, die mit diesen Labels arbeiten, ein Problem. Was sollen sie tun? Sie weiter nutzen und sich damit unter Umständen einem pauschalen Greenwashing-Vorwurf aussetzen? Oder die Siegel einfach weglassen?
Nestlé Deutschland verzichtet auf Klima-Labels
Progressivere Marken hätten schon vor gut einem halben Jahr damit begonnen, entsprechende Labels abzuschaffen, erzählt Pechmann. Weitere Unternehmen folgen offenbar. Nestlé Deutschland zum Beispiel antwortet auf einen sehr langen Fragenkatalog mit einem sehr kurzen Satz, nämlich: „Nestlé Deutschland hat sich entschieden, vorerst keine Klima-Labels im Marketing einzusetzen.“
Aldi Süd ist auskunftsfreudiger: „Aldi Süd nimmt die Vorwürfe gegenüber den von Verra zertifizierten Waldschutzprojekten sehr ernst und erwartet von Verra ihre lückenlose Aufklärung“, so eine Sprecherin. Man stehe in engem Austausch mit dem Label-Anbieter ClimatePartner, um die Auswirkungen der Vorwürfe auf das vergangene und künftige Engagement zu prüfen. Bis dahin bleibt der Konzern bei seiner Strategie, die auf der Aldi-Süd-Website transparent dokumentiert ist.
Übrigens: Für die Label-Anbieter, wie eben ClimatePartner, Myclimate oder Carbon Trust, ist die Debatte auch kein Vergnügen. Denn es ist ihr Geschäft, Zertifikate an Unternehmen zu vermitteln, die dafür dann im Gegenzug beispielsweise das „klimaneutral“-Label verwenden dürfen. ClimatePartner will im April eine neue Lösung vorstellen. Dabei werde es nicht mehr um „klimaneutral“ als Ergebnis gehen, so ein Sprecher, „sondern um die Verpflichtung zur Reduktion in Verbindung mit Transparenz in einer ganzheitlichen Klimaschutzstrategie, die wir fest in der Unternehmensstrategie unserer Kunden verankert sehen wollen“.
Klima-Labels sind sinnvoll – eigentlich
Aldi Süd unterstützt laut Eigenangaben die aktuellen politischen Bemühungen, Marketingaktivitäten rund ums Thema Klimaschutz einheitlich zu regeln. Die Begründung: „Aldi Süd und Verbraucherinnen und Verbraucher benötigen verlässliche und transparente Standards, an denen sie sich orientieren können.“ Und genau da liegt der Hase im Pfeffer: Siegel, Labels und Zertifizierungen sind eigentlich geeignete Mittel, um Komplexität zu reduzieren und Konsument*innen bei der Kaufentscheidung zu helfen.
„Orientierung ist das süße Gift, das so ein Label verteilt. Es suggeriert den Konsument*innen, dass sie eine andere Qualität in ihrer Kaufentscheidung haben“, sagt Jan Pechmann. Letztlich sei eine gute Nachhaltigkeitskommunikation eine Art Service für nachhaltige Konsument*innen: „Die versuchen nämlich gerade, einen nachhaltigeren Lebensstil zu verfolgen, und brauchen dafür Befähigung, Orientierung und Wissen – und das so effizient wie möglich. Ein Label suggeriert ein Maximum an Effizienz.“
Nicht auf gesetzliche Regelungen warten
Gefragt ist also eine überschaubare Menge an relevanten, qualitativ hochwertigen Labels mit transparenten, kontrollierten Standards. Und: verbindliche Regeln für die Marketingkommunikation. Und bis dahin? Auf gesetzliche Regelungen sollten Unternehmen jedenfalls nicht warten, ist Marco Peters überzeugt. Sein Rat: auf keinen Fall Greenwashing betreiben, transparent sein, ehrlich benennen, was das Unternehmen tut und an welchen Punkten es noch besser werden muss – und nicht nachlassen.
Was tun sie als Marke, um aus weniger mehr zu machen? Oder um den second market attraktiver als den first market zu machen? Das sind spannende Marketingfragen, die wir uns jetzt beantworten sollten, die über Kompensationsclaims hinausgehen und immer relevanter werden.
Stefanie Kuhnhen, Chief Strategic Officer und Partnerin bei Serviceplan sowie Gründungsmitglied von The Green Fusion Network
Stefanie Kuhnhen, Chief Strategic Officer und Partnerin bei Serviceplan sowie Gründungsmitglied von The Green Fusion Network, empfiehlt Kund*innen, generell „nur das zu versprechen, was sie auch hundertprozentig halten können, um nicht in der Greenwashing-Falle zu landen. Und auch erst dann zu kommunizieren, wenn sie Dinge wirklich tun, nicht vorab.“ Zudem müssten Marken wissen: Klimaneutrales beziehungsweise -positives Verhalten umfasse auch Reduktion. „Dieses Verständnis ist inzwischen State of the Art und sollte auch als Absprungbasis für jede Nachhaltigkeitskommunikation berücksichtigt werden: Was tun sie also als Marke, um aus weniger mehr zu machen? Oder um den second market attraktiver als den first market zu machen? Das sind die spannenden Marketingfragen, die wir uns jetzt beantworten sollten und die über Kompensationsclaims hinausgehen und immer relevanter werden.“
Wer weiß, vielleicht gibt es ja demnächst Treibhausgas-Emission-Reduktions-Labels – die sollten einfach verständlich und ihre Zertifizierung hieb- und stichfest sein. Das würde allen dienen: den Konsument*innen, den Marken und, wichtig (!), dem Klima.