KI im Marketing bei der R+V

Wieso es eine Diskussion braucht über die Auswirkungen von KI auf das Lernen und Lehren, erklärt Anja Stolz, CMO der R+V Versicherung, im Interview. Teil 20 der Serie Künstliche Intelligenz im Marketing.
KI im Marketing 20: Anja Stolz ist CMO im Marketing bei R+V
Anja Stolz ist CMO bei der R+V Versicherung. (© R+V)

Frau Stolz, wofür haben Sie KI zuletzt persönlich eingesetzt? 

Ich habe zuletzt mit einer App für Sehbehinderte experimentiert – SeeingAI. Das war spannend zu sehen, wie die KI ziemlich treffsicher und in real time Alter, Geschlecht und Stimmung erfasst. Auch mit ChatGPT habe ich ein paar Analysen machen lassen … das ist wirklich unschlagbar schnell in Recherche und Mustererkennung. 

In welcher Weise setzt die R+V KI im Marketing ein? 

Wir setzen KI für vielfältige Themen innerhalb unserer omnikanalen Kunden- und Marktbearbeitung ein. Worum geht es hier letztlich sehr vereinfacht: Kunden besser erkennen mithilfe der Daten, sie besser erreichen und ihnen passende Angebote machen – und das immer und immer wieder. Das beginnt mit datenbasierter Kundensegmentierung jenseits von Demografie, passgenauer Kundenansprache über optimierte Kampagnen oder Content, Next Best Offer oder auch gezielte Customer Journeys. Es geht natürlich über in die Steuerung ganzer Kundenportfolien und in das Erkennen von Trends, Chancen, Potentialen, aber auch Risiken. Das hilft bei höherer Kosten-Nutzen-Effizienz, Geschwindigkeit und Treffsicherheit und erfüllt vor allem die Erwartungen der Kunden besser. Aus der Win-Win-Situation entstehen letztlich Kundenwachstum, mehr gemeinsame Geschäfte und höhere Kundenbindung. 

Welche rechtlichen oder ethischen Fragen zur KI sind Ihrer Meinung nach noch ungeklärt? 

Meines Erachtens sind diese Fragestellungen nicht wirklich ungeklärt. In Deutschland haben wir auf der rechtlichen Seite wahrscheinlich einen etwas komplexeren Balanceakt zwischen KI und Datenschutz. Natürlich müssen wir hier aufpassen, dass wir uns nicht selbst im Weg stehen und dass das nicht zum (zu) bürokratischen Wettbewerbsnachteil wird. Muss es aber nicht – es kann auch Vorteile bei wesentlichen Themen wie ‚Vertrauen unserer Kunden‘ mit sich bringen. Auf der ethischen Seite birgt jede Technologie die Gefahr eines Missbrauchs. Deshalb auf (technologischen) Fortschritt und Innovation zu verzichten oder das ausbremsen zu wollen, wäre erstens nicht sinnvoll und zweitens auch unrealistisch.  

Die Grundsätze ethischen Verhaltens im Miteinander – hier zwischen Unternehmen und Kunden – ändern sich durch die Technologie nicht. Es gilt allerdings sicherzustellen, dass sie auch mit der Technologie zum Einsatz kommen, beziehungsweise nicht missachtet werden. Das sind beispielsweise Themen wie Achtung des Menschen und seiner Persönlichkeitsrechte, Sicherheit, Transparenz oder Herkunft von Daten, Nachhaltigkeit, Vermeidung von Diskriminierung und Bias oder schlicht Fairness. Worüber es meines Erachtens auch eine Diskussion braucht, ist das Thema, welche Auswirkung KI auf das Lernen und Lehren hat – hier braucht es möglicherweise eine kritischere Betrachtung dessen, was wir durch Technologie an wichtigen Fähigkeiten verlernen. Stichwort Deskilling – nicht nur Upskilling. 

Welche Aufgaben im Marketing könnte die KI in Zukunft noch übernehmen?  

KI oder generative KI ist überall dort besser und schneller, wo viele – auch Terrabyte – an Daten vorhanden sind und wo es um die Erkennung von Mustern – also quasi menschlichen Trampelpfaden – oder die Berechnung von Wahrscheinlichkeiten geht. Generative KI gibt hier noch einen Schub, weil auch unvollständige und unstrukturierte Daten aus vielfältigen Quellen gut genutzt werden können. Da ist die Maschine einfach besser als unser Hirn.  

Im Marketing kann diese Fähigkeit im gesamten Funnel oder auch den 7 Ps zum Einsatz kommen – vom Kundenverhalten/Trends, Budgetallokation, Media, Campaigning über Produktentwicklung, Pricing, Segmentierung, Content, Kanäle und Ansprachen. Dies wird jedoch keineswegs den erfahrenen menschlichen Marketer ersetzen. Im Gegenteil: Ich glaube an ein Hand-in Hand-Spiel zwischen Mensch und KI. Der moderne Marketer gewinnt an Verantwortung im ganzheitlichen Customer Management und braucht dafür ein erweitertes Skillset. 

Wo liegen die Grenzen, also für was wird es immer das menschliche Hirn brauchen? 

KI ist stark, wenn große Mengen an Daten vorliegen. Dann funktionieren Algorithmen – Muster, Gemeinsamkeiten und Korrelationen – perfekt. Damit liegen überall dort die Limitationen, wo es diese Daten als Grundlage nicht gibt. Menschliches Denken funktioniert anders – es beruht auf Erfassen, Problembewusstsein, in Frage stellen und Urteilsvermögen, es ist generalistischer, offener und damit in der Lage komplexe Denkprozesse außerhalb vorgegebener Aufgaben oder einer Datenlage zu erreichen. Kurz: Das menschliche Hirn ist zwar nicht so gut bei der Verarbeitung von Datenmengen, es kann aber besser einen Sinn- und Verständniszusammenhang aufbauen. Dazu kommt, dass ein großer Teil dessen, was für unser Menschsein von Bedeutung ist, sich nicht oder nicht gut mit Daten erfassen lässt. Wir sind eben nicht nur ein homo rationalis – wir haben Werte, Emotionen oder Spiritualität. Darüber hinaus leistet unser Hirn eine Form von Kreativität. 

Das Interview wurde schriftlich geführt


Alle bisher erschienenen Folgen dieser Interviewserie mit Markenentscheider*innen zu KI lesen Sie hier:     

Folge 1: KI im Marketing bei SAP, Gespräch mit Kerstin Köder     

Folge 2: KI im Marketing bei Burger King, Gespräch mit Klaus Schmäing     

Folge 3: KI im Marketing bei Ritter Sport, Gespräch mit Franziska Kleinhans     

Folge 4: KI im Marketing bei Obi, Gespräch mit Christian von Hegel     

Folge 5: KI im Marketing bei Mercedes-Benz, Gespräch mit Bettina Fetzer     

Folge 6: KI im Marketing bei Tonies, Gespräch mit Claudia Lührs     

Folge 7: KI im Marketing bei Afri Cola, Gespräch mit Sven-Eric Frisch     

Folge 8: KI im Marketing bei Henkel, Gespräch mit Sarah Manseck     

Folge 9: KI im Marketing bei Nestlé, Gespräch mit Daniel Marschollek     

Folge 10: KI im Marketing bei Rossmann, Gespräch mit Petra Czora    

Folge 11: KI im Marketing bei Samsung, Gespräch mit Mike Henkelmann    

Folge 12: KI im Marketing bei Frosta, Gespräch mit Hinnerk Ehlers  

Folge 13: KI im Marketing bei Tchibo, Gespräch mit Kristina Büttner  

Folge 14: KI im Marketing bei der Gothaer, Gespräch mit Thomas Heindl 

Folge 15: KI im Marketing bei Rewe, Gespräch mit Elke Wilgmann 

Folge 16: KI im Marketing bei Otto, Gespräch mit Nicolai Johannsen 

Folge 17: KI im Marketing bei Covestro, Gespräch mit Dickon Purvis 

Folge 18: KI im Marketing bei Nivea, Gespräch mit Nadine Bartenschlager und Catherine Niebuhr 

Folge 19: KI im Marketing bei InnoGames, Gespräch mit Felix Janzen

(tht, Jahrgang 1980) ist seit 2019 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Davor war er zehn Jahre lang Politik- bzw. Wirtschaftsredakteur bei der Stuttgarter Zeitung. Der Familienvater hat eine Leidenschaft für Krimis aller Art, vom Tatort über den True-Crime-Podcast bis zum Pokalfinale.