KI muss Vielfalt abbilden

Mina Saidze ist Gründerin und Tech-Expertin. Sie spricht im Interview über KI-Allgemeinbildung, reproduzierte Diskriminierung und menschliche Fähigkeiten, die Künstliche Intelligenz niemals ersetzen kann.
interview-saidze_c_Julia-Steinigeweg
Mina Saidze, Gründerin und Tech-Expertin. (© Julia Steinigeweg)

Frau Saidze, der Titel Ihres Buches, das Ende September erscheint, lautet FairTech – Digitalisierung neu denken für eine gerechte Gesellschaft. Woher kommt Ihre Aufforderung, neu zu denken, und was ist der Status quo?  

Im internationalen Vergleich ist Deutschland noch ein digitales Entwicklungsland. Aber damit wir auf internationaler Ebene mithalten können und auf Augenhöhe mit Ländern wie China, Israel, Indien oder auch den USA am weltpolitischen Verhandlungstisch sitzen können, ist es wichtig, dass unsere Bürger*innen in der Lage sind, sich am Diskurs rund um Technologie zu beteiligen. Das bedeutet nicht, dass jede und jeder unbedingt Coden können muss, sondern es geht um die Kompetenz und das Grundverständnis in Sachen Künstliche Intelligenz und Daten. Dazu kommen Fragen wie: Wie gehen wir mit dem Urheberrecht in Sachen KI um? Was bedeutet das für den Wert von Sprache, wenn KI in der Lage ist, journalistische Texte zu verfassen? Außerdem ist es wichtig, als Staat souverän agieren zu können, wenn sich gerade die Machtverhältnisse im digitalen Zeitalter verändern.  

Woher kommen Ihre Begeisterung und Ihr Zugang zur Digitalisierung?  

Ich sage immer, dass ich das mit der Muttermilch aufgesogen habe. Das ist dem Aktivismus meiner Eltern geschuldet, die sich in Afghanistan in der Opposition und gegen die Taliban engagiert haben. Das hatte für sie zur Konsequenz, dass sie ihre Heimat verlassen mussten und ihren neuen Heimathafen in Hamburg fanden, wo ich geboren wurde. Deswegen war ich schon in einem recht frühen Alter politisiert und trage eine innere Wut in mir. Das muss nichts Negatives sein, denn eigentlich kann es eine schöpferische Kraft haben und ein Antrieb sein, um den Status quo zu hinterfragen. Ich sehe es als meinen gesellschaftlichen Auftrag an, die Brücke zwischen Mensch und Technologie zu bilden. Für mich ist das ein Stück weit Wissenschaftskommunikation, da wir dieses Wissen nahbar machen müssen, sodass möglichst viele Menschen begreifen, wie Technologie und insbesondere Künstliche Intelligenz funktionieren und unsere Gesellschaft verändern.  


In ihrem Buch „FairTech – Digitalisierung neu denken für eine gerechte Gesellschaft“ (Quadriga Verlag, erhältlich ab 29. September 2023) schreibt Mina Saidze über Chancengleichheit und soziale Aspekte, die bei all den technologischen Veränderungen und Möglichkeiten von Künstlicher Intelligenz mitgedacht werden müssen.


Wie politisch ist die Digitalisierung also? 

Wenn wir uns die Geschichte der Menschheit anschauen, dann sehr. Schon zu Zeiten der Französischen Revolution sind Menschen auf die Straße gegangen und haben protestiert, um sich ihren eigenen politischen Einfluss zu sichern. Und in diesem Zeitalter sehen wir, dass Gewerkschaften und andere Interessengruppen merken, dass Jobs potenziell gefährdet sein können oder zumindest große Veränderungen bevorstehen. Deshalb ist es wichtig, dass alle den Diskurs mitbestimmen können.  

Wie ist das möglich?  

Diese Wissensvermittlung muss bereits an den Schulen beginnen. Ich lerne dort Lesen, Rechnen und Schreiben – aber nicht, woher Daten kommen und wie sie für den Algorithmus verwendet werden. Das ist aber für die Praxis wichtig: Warum werden mir bei Dating-Apps bestimmte Menschen angezeigt? Warum wird mir im Onlineshop ein bestimmtes Paar Schuhe vorgeschlagen? Mit diesen Fragen sind wir täglich konfrontiert und es bedarf viel Aufklärungsarbeit, die in der Schule anfangen und in Universitäten weitergehen sollte. 

Welche Weiterentwicklung von KI hat Sie in den letzten Jahren besonders beeindruckt?  

Ein bedeutsamer Fortschritt wurde im Bereich der Computerlinguistik gemacht, was beispielsweise Microsoft bereits einsetzt. Diese Funktion kennt allerdings kaum jemand, da sie weltweit bislang nur einigen ausgewählten Unternehmen zugänglich ist: Microsoft Copilot ist ein Produktfeature innerhalb des Microsoft-365-Ökosystems. Damit kann ich Befehle geben, sodass meine Daten ausgewertet werden, und ich brauche dazu nicht die Hilfe von Analyst*innen.  

Wie kann das im Daily Business aussehen?  

Wenn ich beispielsweise nicht an einem Meeting teilgenommen habe und trotzdem eine Projektbeschreibung machen muss, die ich als Update an alle Beteiligten schicken kann, habe ich folgende Möglichkeit: Durch einen Befehl kann mir das Feature aus dem Teams-Call, aus meinen Mails in Outlook, aus Microsoft- und Excel-Dateien eine Zusammenfassung des Projekts erstellen.  

Das klingt sehr effizient und arbeitserleichternd.  

Es gibt eine aktuelle Studie vom MIT (Massachusetts Institute of Technology), der zufolge Mitarbeitende, die KI verwenden, bis zu 37 Prozent effizienter sind als jene, die es nicht tun. Es ist wie eine Automatisierung der intellektuellen Fließbandarbeit. Aus historischer Perspektive ist das revolutionär. 

Trotz all der Errungenschaften ist bestimmt noch nicht alles perfekt ausgearbeitet und brauchbar. Welche Möglichkeit, die KI bietet, ist Ihrer Meinung nach vielleicht sogar überflüssig?  

Überflüssig nicht, aber womit ich nicht zufrieden bin, sind sogenannte Speech-to-Code Applications. Das heißt, ich programmiere mit meiner Stimme, also spreche etwas ein, und daraus wird ein Code generiert, den ich nicht mehr händisch aufschreiben muss. Das ist allerdings noch nicht akkurat und ausgereift genug und braucht noch einige Jahre, um die nötige Qualität zu haben, sodass diese Funktion wirklich verwendet wird.  

Bei Künstlicher Intelligenz werden die Informationen genutzt, die bereits vorhanden sind – das bedeutet, dass Diskriminierungsmechanismen und -strukturen ebenfalls reproduziert werden.  

Genau, der Algorithmus lernt mithilfe verschiedener Daten, menschenähnliche Fähigkeiten zu entwickeln. Hier wird ganz viel aus den Feldern Informatik, Rechtswissenschaft, Forschung, Journalismus, Literatur und Poesie aus den letzten Jahrzehnten und Jahrhunderten verwendet. Der Diskurs wurde allerdings hauptsächlich von weißen, männlichen Cis-Personen geprägt – aufgrund der historischen Umstände. Die Dominanz dieser Gruppe bedeutet aber, dass sich ein gewisser Standard etabliert hat, wie wir mit Sprache umgehen. Von Diskriminierung spricht man, wenn alles, was von dieser Norm abweicht, nicht stattfindet. Das gilt insbesondere für marginalisierte Gruppen wie Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder People of Color – sie kommen einfach nicht vor.  

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?  

Wenn ich in einen KI-getriebenen Bildgenerator den Befehl eingebe, dass mir Hände gezeigt werden, die an einer Tastatur arbeiten, sind diese Hände mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit weiß. Erst wenn ich eine spezifischere Anforderung formuliere, bekomme ich diverse Hände zu sehen.  

Was muss sich hier ändern? 

Die Datensätze für die KI müssen auch die Vielfalt unserer Lebensrealität widerspiegeln. Dafür dürfen wir bei der Entwicklung von Technologie nicht nur auf die technologische Machbarkeit schauen, sondern müssen auch kulturwissenschaftliche, historische, philosophische und soziologische Ansätze berücksichtigen. 

Welche Fähigkeit, die Menschen allgemein auszeichnet, wird Künstliche Intelligenz niemals ersetzen können? 

Ganz klar: Empathie und Erfahrung. Ein Beispiel: Beim Thema Brustkrebs wird eine KI in der Lage sein, diesen deutlich schneller zu diagnostizieren als eine Ärztin. Was die KI allerdings nicht kann, ist: das Gespräch mit der Ärztin ersetzen. Klar, könnte ich hier auch mit einem Chatbot agieren, aber ich brauche in solchen Situationen ein menschliches Gegenüber, das mir mit Empathie und der nötigen Erfahrung begegnet. Das wird die neue Superkraft im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz. Generell werden die sogenannten Soft Skills weiterhin wichtig bleiben, der Fokus darf nicht nur auf Technologie und Programmierkenntnissen liegen.  

(eb, Jahrgang 1993) ist freie Journalistin und kam vom Modejournalismus über Umwege zum Wirtschaftsjournalismus. Sie kann sich schnell für neue Themen begeistern, führt am liebsten Interviews und hasst Stillstand – was das Pendeln zwischen Bayern und Berlin umso leichter macht.