Leider müssen offensichtlich immer erst Ereignisse dieser Tragweite unsere wahren Interessen aufdecken. Hier meint das insbesondere: Diese Interessen müssen sich für Menschheit und Wirtschaft nicht immer decken.
Die Schäden, die letztlich in Japan zurückbleiben, sind derzeit kaum zu beschreiben. Die Überhitzung des Reaktorkerns, mehrere Explosionen und der Austritt radioaktiven Materials veranlasste die dortige Regierung bislang jedenfalls schon, rund 80 000 Anwohner aus einem Radius von 20 Kilometern zu evakuieren. Das bange Verfolgen der Wettervorhersagen, vor allem zum Wechsel der Windrichtung, verdeutlichen plastisch, was eigentlich nicht zu sehen ist: Die Wolken mit radioaktivem Fallout könnten auch woanders hin geweht werden. Wir erinnern uns in Deutschland noch heute sehr gut an die monatelange Diskussion damals zur Kontamination über Tausende von Kilometern hinweg, obwohl die Katastrophe von Tschernobyl und ihre unmittelbaren Folgen schon 25 Jahre zurückliegen. Für
den Super-Gau in Russland beziffert die Weltgesundheitsorganisation: 50 Menschen starben an der Strahlenkrankheit, bis zu 9 000 an den langfristigen Folgen.
Der angeblich billige Preis von Atomstrom erscheint so in einem neuen Licht. Schüco-Chef Dirk U. Hindrichs hat jüngst an dieser Stelle schon genug über die Mogelpackung ins Feld geführt: Atomstrom sei zu billig und bilde nicht die wahren Kosten ab. Jede Alternative habe zwar ihren Preis, und der entscheide über die Zukunft von Beschäftigung und Einkommen am Standort Deutschland, betonte Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln soeben im Handelsblatt, aber auch er fordert richtigerweise ein neues Energiekonzept von der Regierung sowie Investitionen aus den 20 Milliarden Euro Stromverbraucher-Gebühren in die Erforschung wettbewerbsfähiger Alternativ-Techniken statt bestehender Technologien.
Gegen die staatliche Anschubfinanzierung von zukunftsweisenden Lösungen wird heute niemand ernsthaft etwas einwenden können, wenn die berechtigte Sorge nachhaltig bestehen bleibt und eine ehrliche Gesamtbilanz zu Grunde liegt. Der folgenschwere Unfall in Japan täuscht schließlich auch über eines hinweg: Das Erdbeben und der darauf folgende Tsunami mögen tatsächlich ein seltenes Ereignis darstellen, das Europas Mitte nicht treffen mag. Aber was nutzt das, wenn Ausläufer der Katastrophe über den Himmel verbreitet werden? Das macht Strahlung so tückisch.
Noch deutlicher gibt zu denken, was ein Sicherheitsexperte, dessen Unternehmen mit der regelmäßigen Abnahme in Kernkraftwerken gesichertes Geld verdiente, schon Anfang der 90er-Jahre mir gegenüber einräumte: Hiesige Anlagen entsprächen zwar dem weltweit höchsten technologischen Standard, doch die offene Frage nach der sicheren Endlagerung ausgedienter Brennstäbe und anderen über Tausende von Jahren strahlenden Atommülls können niemals beantwortet werden.
Ein Freund, selbst bundesweit anerkannter Sachverständiger für Umwelt- und Arbeitsschutz auch auf Großanlagen und grundsätzlich sicher kein Sympathisant von Atomkraftwerk(AKW)-Gegnern oder dergleichen, sprach kürzlich noch einen anderen Aspekt an: Für jedes Kohlekraftwerk, für jede Farbenfabrik, ja selbst für jeden größeren Schweinestall müssten Betreiber im Rahmen der Genehmigung laut Bundes-Immissionsschutzgesetz oder nach der Störfallverordnung nachweisen, dass die Reststoffentsorgung gefährdungsfrei sichergestellt ist. Dies sei bei Kernkraftwerken nicht gefordert. Eigentlich sei die Endlagerung aber nicht gefährdungsfrei gesichert und damit folglich nicht genehmigungsfähig. Dabei gelte doch im Ordnungsrecht das Gleichheitsprinzip. Warum man wohl bei AKWs dieses objektive Risiko aus dem Genehmigungsverfahren ausklammert?
Die Lobbyisten stehen sich natürlich wieder unüberbrückbar gegenüber. Wie beruhigend wäre eine Regierung, die eine unabhängige Entscheidung zu unserer Energiezukunft trifft, die das Richtige bringt. Dies kann nur der schnellstmögliche Ausstieg sein, wenn man die lange Liste der AKW-Unfälle betrachtet. Wie schnell das sein wird, hängt vor allem davon ab, wie viel wir uns leisten können und wollen, in Alternativen zu investieren. Vermutlich liegt die Frist zwischen folgenden beiden Polen:
„Zumindest kurz- und mittelfristig“ den Wegfall der Erzeugung aus den betreffenden Kernkraftwerken durch eine höhere Auslastung der deutschen Kohle- und Erdgaskraftwerke auszugleichen, kann sich mittlerweile sogar Hildegard Müller als Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Energiewirtschaft (BDEW) vorstellen. Der Bundesverband Erneuerbarer Energien (BEE) bezifferte am vergangenen Dienstag noch: „Bis zum Jahr 2020 können die Erneuerbaren Energien bereits 47 Prozent der deutschen Stromversorgung sichern.“
Heute nun, knapp eine Woche später, stellte der BEE sein „Aktionsprogramm für schnelleren Umbau der Energieversorgung in Deutschland“ mit diesen Zahlen vor: „Bis zum Jahr 2020 können die Erneuerbaren Energien den Ausstieg aus der Atomenergie in Deutschland bereits vollständig kompensieren.“ BEE-Präsident Dietmar Schütz drückt zusätzlich aufs Tempo: „Wir sind jedoch einer Meinung mit weiten Teilen der Bundesregierung und der Bevölkerung, dass es sinnvoller und möglich ist, die Nutzung der folgenschweren Hochrisikotechnologie Atomkraft noch schneller zu beenden.“ Geht doch!
Über den Autor: Thorsten Garber arbeitet als Redakteur bei der „absatzwirtschaft –Zeitschrift für Marketing“ und zeichnet darin für das Ressort „Global Marketing“ verantwortlich. Außerdem schildert er Verantwortlichen aus Marketing und Vertrieb im Trendgipfel-Blog neue Entwicklungen, die Unternehmen bei der Veranstaltung von Managementforum und Fachverlag erwarten und die sie nutzen sollten.
Warum die Preise für Atomstrom nicht ehrlich sind und alte Atomkraftwerke vom Netz müssen, lesen Sie im Kommentar von Schüco-Chef Dirk U. Hindrichs unter www.absatzwirtschaft.de/kommentar