Seit dem Beginn von Online-Werbung und insbesondere seit dem Aufkommen von Programmatic Advertising gibt es ein großes Versprechen: Mediaplanung wird dank vollautomatisierter Buchungssysteme auf Basis von zahlreichen Datenpunkten kinderleicht, Zielgruppen lassen sich mit einem Klick präzise ansteuern und das bereitet den Streuverlusten ein Ende. Heute ist klar: Die Verwerfungen im digitalen Universum sind trotz oder gerade wegen immer größerer Datenmengen enorm.
„Wir sollten eine Pause einlegen und darüber nachdenken, ob die Dinge so Sinn machen“, sagt Ralf Brüser, beim Textilkonzern H&M als Media Manager zuständig für die Region Central Europe. Denn manche Entwicklungen machen es immer schwerer, die Zielgruppen wirklich zu erreichen. So etwa die Fragmentierung in neue Kanäle und Angebote von Suchmaschinenmarketing bis Social Media, der Datenschutz oder das anstehende Cookie-Aus. Zudem drücken altbekannte Themen wie Viewability, Werbecluster, Brand Safety und Bot-Traffic auf die Werbewirkung. Die Folge: Trotz steigender Digitalbudgets lassen Werbeeffektivität und -effizienz schleichend nach.
Zu den Faktoren, die die Wirksamkeit von digitaler Werbung schmälern, gehört auch, dass die Werbung häufig im nicht-sichtbaren Bereich ausgespielt wird. Dass Werbung, die keiner sieht, nicht wirken kann, ist eigentlich ein No-Brainer. Doch solches Inventar ist günstig. Wird es im Mediaplan beigemischt, verbessern sich automatisch die Einkaufskonditionen für die Werbetreibenden. Das macht Kampagnen billiger, wenn auch weniger wirksam. Verfehlt eine Kampagne in der Folge ihre Ziele, kommen die Kunden schnell in die Situation, Budget nachschießen zu müssen. Nicht immer sind diese Mechanismen klar.
Unklare Standards für die Sichtbarkeit
Vor allem im derzeit boomenden Videobereich sollte man genau hinsehen. Zum Beispiel auch bei der Viewability. Seit Jahren wird in Deutschland darüber diskutiert, welche Standards für die Sichtbarkeit von Werbemitteln gelten sollten. Am weitesten verbreitet ist die 50/2-Regel der US-amerikanischen Non-Profit-Organisation Media Rating Council (MRC). Demnach gilt eine Videoanzeige als gesehen, wenn 50 Prozent der Anzeige mindestens zwei Sekunden lang „above the fold“, also auf dem Screen, zu sehen war. Doch reicht das aus?
Thomas Lohr, Gründer und Geschäftsführer des Video-Ad-Vermarkters Spoods, vergleicht 50/2 mit einem TV-Spot im Fernsehen, bei dessen Ausstrahlung die untere Hälfte des Bildschirms schwarz bleibt. Die Empörung der Werbungtreibenden wäre enorm. Weitere Beispiele für fragwürdige KPIs sind die Anzahl der Video-Ad-Starts oder der Completed Views. Ist ein Video nicht sichtbar, weil es zwar noch läuft, aber der User schon darüber hinweggescrollt hat, sagen diese Kennzahlen wenig aus über die Wirkung. Zudem macht es einen großen Unterschied, ob der Spot als Pre-Roll läuft oder am Ende der Seite als Content Ad. „Selbst wenn die Werbung im sichtbaren Bereich ausgespielt wird, ist ein Content Ad niemals vergleichbar mit Instream Ads“, sagt Tobias Wegmann, CTO von Mediaplus Realtime.
Die Frage nach den richtigen Kennzahlen sollte daher mehr in den Mittelpunkt rücken: „Wenn man die KPIs nicht verändert, wird sich aus meiner Sicht wenig bewegen. Aber aus meinen Gesprächen mit Kunden und Mediaagenturen lerne ich, dass die KPIs immer öfter hinterfragt werden“, so Lohr.
KI verleiht Betrügern Flügel
Doch hinterfragen reicht nicht, sie müssen auch überprüft werden. „Die Nachfrage nach Inventar ist hoch und die Messbarkeit begrenzt“, sagt Wegmann. „Wir sind noch nicht da, wo wir sein sollten. Man muss den Anteil der messbaren und auch der gemessenen Impressions erhöhen“, bestätigt Patrick Stoltze. Stoltze ist beim Messdienstleister Integral Ad Science (IAS) tätig als Country Manager für Zentral- und Osteuropa (CEE).
„Die kontinuierliche Qualitätskontrolle im Digitalen Marketing ist eine echte Herausforderung“, sagt auch Thorsten Müller, bei Reckitt Benckiser Director für Data Driven Marketing & Media DACH/Nordics. „Aber man kann wirklich einige technische Maßnahmen ergreifen, um sie in den Griff zu bekommen.“ Dazu gehöre beispielsweise auch, Ad-Verification-Dienstleister einzusetzen – aus Müllers Sicht ein „Must-do“.
Digitalspezialisten wie Integral Ad Science, DoubleVerify und Fraud0 kennen die Tricks in der Grauzone bis hin zum Betrug und kontrollieren, wo und wie Werbung ausgespielt wird. „Die Tausend-Kontakt-Preise bieten ein attraktives Umfeld für Werbebetrug“, sagt Stoltze. Auch H&M-Manager Brüser warnt: „Man muss genau hinschauen. Es ist viel Geld im Markt und damit ist auch die Incentivierung für Fraud hoch.“
Dank Künstlicher Intelligenz rüsten die Betrüger massiv auf. „KI verleiht Fraudstern gerade Flügel. Sie macht klügere, menschenähnliche Bots“, so Tilman Pfeiffer, Gründer und CEO der Ad-Verification-Spezialisten Fraud0. Die Bots imitieren Impressions, werden aber nie zu Käufern. Das Werbegeld verpufft. Auch auf der anderen Seite des Marktes ist mehr Kontrolle angesagt. Dank KI steigt das Angebot an Made-for-Advertising-Seiten (MFA) massiv an. Diese sind vollgestopft mit Werbemitteln und bieten den Usern kaum Mehrwert. Dank KI werden sie echten redaktionellen Websites jedoch ähnlicher. „MFA-Seiten senken die Werbeeffizienz, aber das ist nicht illegal. Daher muss man hier genau hinsehen“, sagt IAS-Manager Stoltze.
Passender Kontext erhöht Werbewirkung
In dieser Gemengelage kommt nun wieder eine alte Tugend zum Tragen, die in den Jahren der „digitalen Besoffenheit“, wie der bekannte Agenturmanager Christof Baron es einmal genannt hat, zu kurz gekommen ist: die Frage nach der Werbewirkung. „Der richtige Kontext erhöht die Werbeerinnerung“, sagt Spoods-Gründer Lohr.
Für Reckitt-Manager Müller wäre die Umfeldplanung „eher ein Rückschritt, vor allem weil man sich oft wundert, wie sehr der subjektive Eindruck von den tatsächlichen Nutzungsmustern und -gruppen abweicht“. Anders sieht das Brüser von H&M: „Wenn ich eine große Reichweitenkampagne habe, mit der ich die Zielgruppe 14+ erreichen möchte – muss ich dann Programmatic machen oder reicht nicht eine Umfeldplanung?“ Auch bei Brand-Kampagnen müsse man sich fragen, wie sinnvoll es ist, Werbung auf zufällig ausgewählten Seiten zu platzieren, und ob es nicht erfolgreicher sein kann, das Werbemittel im thematisch passenden Umfeld einzusetzen. „Zum Teil gehen wir einen Schritt zurück“, so Brüser, „das bedeutet, wir navigieren raus aus Programmatic und wieder rein in IO“ – also in Direktbuchungen beim Publisher. „Ein guter Publisher hat kein Bot-Problem“, sagt Fraud0-CEO Pfeiffer.
Auch das für dieses Jahr angekündigte finale Cookie-Aus fördert die Rückbesinnung auf Umfeldbuchungen. „Kontextuelles Targeting wird wichtiger“, beobachtet Oliver Kampmeier, Marketingmanager bei Fraud0. Um mit all den Herausforderungen richtig umzugehen, die Digitalwerbung mit sich bringt, hat H&M-Manager Brüser dann noch einen ganz anderen Tipp, nämlich Zusammenhänge ab und an mal offen zu hinterfragen: „Ich versuche mich mehr auf meinen gesunden Menschenverstand zu verlassen, als mich gläubig einfach der Technologie hinzugeben.“