Sie sind allgegenwärtig in mexikanischen Supermärkten und Tante-Emma-Läden: schwarze Waben auf den Lebensmittelverpackungen, die auf hohen Kalorien-, Zucker-, Natrium- und Fettgehalt hinweisen. Für die einen willkommene Hilfe bei der Kaufentscheidung, für andere Ärgernis und Geschäftshemmnis. Mexiko streitet um die Warnhinweise auf Softdrinks und Junk Food. Ein wichtiges Feld dieser Auseinandersetzung: die Werbung. Der Hintergrund aber ist ein ernster und ernstzunehmender.
Übergewicht und Diabetes gehören in Mexiko zu den Volkskrankheiten. Vier von zehn Grundschülern sind übergewichtig, jeder dritte Erwachsene in Mexiko leidet unter Fettleibigkeit, chronische Erkrankungen wie Herzkrankheiten, Diabetes und bestimmte Krebsarten gehören zu den häufigsten Todesursachen.
Eine der Hauptursachen für Fettleibigkeit und chronische Krankheiten ist eine schlechte Ernährung und der Konsum von ultraverarbeiteten Lebensmitteln, insbesondere von zuckerhaltigen Getränken und Speisen. „Mexiko steht beim Konsum von ultraverarbeiteten Produkten in der Region an erster Stelle“, sagt Paulina Magaña Carbajal, Koordinatorin der Kampagne für gesunde Ernährung der unabhängigen Verbraucherschutzorganisation El Poder del Consumidor (in etwa: Die Macht des Verbrauchers) im Gespräch in Mexiko-Stadt. Angekurbelt werde dieser Konsum durch Werbung und besondere Strategien der Industrie.
Die Kennzeichnungspflicht von Lebensmitteln in Mexiko
Die mexikanische Regierung von Präsident Andrés Manuel López Obrador hat reagiert und verabschiedete im Jahr 2019 eine Reform des allgemeinen Gesundheitsgesetzes. Seit Inkrafttreten der Verordnung im Herbst 2020 müssen Lebensmittelverpackungen mit Warnhinweisen auf der Vorderseite versehen werden, die auf Süßstoffe oder hohen Kalorien- oder Fettgehalt hinweisen. Vorbild für die Kennzeichnungspflicht ist Chile.
Bei Mexikos Erfrischungsgetränke- und Lebensmittelindustrie ist die Verordnung jedoch auf wenig Begeisterung gestoßen. Als Reaktion hat sie die Werbung ausgeweitet und setzt dabei auf unkonventionelle Konzepte. Das sorgt für Konfliktstoff.
Verboten: Die Verwendung von Kinderfiguren & Co.
Bei den Unternehmen führt ein weiterer Aspekt der Verordnung zu Unbehagen: Enthält ein Produkt Warnhinweise, ist die Verwendung von Kinderfiguren, Cartoons, Prominenten oder Maskottchen zur Bewerbung dieser Produkte verboten. So mussten beispielsweise die stark zuckerhaltigen Cerealien von Nestlé oder Kellogg’s alle fiktiven Figuren von ihren Verpackungen entfernen. Das Gleiche geschah mit Snacks und Gebäck.
„Das war einer der Punkte, bei denen es den größten Widerstand seitens der Industrie gab“, sagt Magaña, „Sie wollen ihre Figuren nicht von der Verpackung entfernen und ihre Werbung einschränken.“ Einzelne Unternehmen haben gegen das Verbot von Figuren auf der Verpackung Rechtsmittel beim Obersten Gerichtshof der Nation (SCJN) einlegt.
Erstes Schlupfloch: Verpackungen mit doppelter Vorderseite
Denn die Verpackung ist ein Werbeträger. Fällt diese Werbefläche weg, ist das schlecht für die Unternehmen. Sie würden auch versuchen, das Werbeverbot zu umgehen, sagt Magaña. „Die Warnhinweise müssen auf der Vorderseite sein. Viele Unternehmen haben daher Verpackungen mit doppelter Vorderseite entworfen – dasselbe Design auf der Vorder- und Rückseite. Die Rückseite aber ohne Warnhinweise. Im Supermarktregal werden die Produkte dann einfach umgedreht. Dann sagt der Verbraucher: Ah, das hier hat keinen Warnhinweis und nimmt es.“ Man habe diese Praxis angeprangert. Mit Erfolg, sie sei immer seltener zu sehen.
Zweites Schlupfloch: Influencer Marketing
Auch haben sich die Unternehmen auf der Suche nach Alternativen an Werbeagenturen gewandt. Und auf diesem Weg haben sie Influencer gefunden, Schauspieler, Komiker oder Youtuber. Das haben El Poder del Consumidor und die Online-Verbraucherorganisation Tec-Check gemeinsam in einer kürzlich vorgestellten Untersuchung für den Zeitraum von September 2021 bis Januar 2022 aufgezeigt.
Marken wie KFC, Kellogg’s, Nestlé, Snickers, Coca-Cola oder Bimbo setzten demnach Influencer ein, um ihre Zielgruppen zu erreichen. „Es gibt einen blinden Fleck in der Verordnung, an dem nicht klar ist, was Influencer teilen“, erklärt Magaña. „Es handelt sich nicht um eine persönliche Empfehlung.” Die Influencer seien mit der Branche verbunden und damit nicht unabhängig. Die Verbraucherschützerin fordert Regulierung, denn vor allem Kinder könnten nicht erkennen, dass es sich um Werbung handelt. „Kinder schauen zu diesen Menschen auf und werden von Produkten beeinflusst, die ein Risiko für ihre Gesundheit darstellen.“ Besorgniserregend sei, dass es nicht nur erwachsene oder jugendliche Influencer gibt, sondern auch Kinder eingesetzt würden, die bei anderen Kindern für diese Produkte werben. „Dies ist eine Strategie, die nicht als Werbung durchschaubar ist.“
Zucker, ein 100 Prozent natürliches Lebensmittel?
Und auch in TV-Spots und auf Plakaten wird immer noch für Zucker und ultraverarbeitete Produkte geworben. Die Nationale Kammer der Zucker- und Alkoholindustrie (CNIAA) warb in den letzten Jahren mit der Kampagne „Let’s Talk About Sugar“ für den Verzehr von Rohrzucker als „100 Prozent natürliches“ Lebensmittel. Zucker wird als „traditionelles mexikanisches Produkt“ angepriesen. Zudem warnt der Sektor vor negativen wirtschaftlichen Folgen für die Zuckerindustrie.
„Es gab eine Plakat- und Anzeigenkampagne speziell vom Zuckersektor hier in Mexiko-Stadt. Die Botschaft erschien an Bushaltestellen und sie erklärten einfach, Zucker sei nichts Schlechtes und lenkten den Diskurs auf Süßstoffe. Als ob Süßstoffe die Bösen wären und Zucker nicht das Problem sei.“ Die Kampagne lief laut Magaña nicht lange. Eine Interviewanfrage an die CNIAA blieb ohne Antwort.
Wer hinter der Kampagne steckt, ist unklar
Für eine andere Kampagne wurden die überall in der Stadt herumfahrenden Mikrobusse genutzt. Darin wurde die Etikettierung angegriffen. Die Warnhinweise auf den Verpackungen funktionieren nicht, so die Botschaft. Die Wirkung sei jedoch begrenzt gewesen, sagt Magaña, weshalb man die Sache nicht weiterverfolgt habe. Wer für die Kampagne verantwortlich war, wisse man nicht. Sie vermutet einen Branchenverband dahinter.
Überhaupt sei die Verflechtung von Interessen ein Problem. Oft treten die Unternehmen selbst nicht in Erscheinung. „Coca-Cola zum Beispiel wird sich nicht verbrennen und sagen: Die Kennzeichnungspflicht ist nutzlos. Es ist selten, dass sich ein Unternehmen in einer Kampagne klar und deutlich positioniert“, so Magaña. Wenn, dann geschehe das über Unternehmensgruppen oder Verbände. Auch die einstweilige Verfügung gegen die Kennzeichnung beim Verfassungsgericht habe Coca-Cola nicht direkt eingereicht, sondern Santa Clara. Santa Clara wiederum ist Teil von Coca-Cola.
Verbände und Unternehmen halten sich bedeckt
Vicente Rodríguez vom Nationalen Verband der Hersteller von Erfrischungsgetränken und kohlensäurehaltigem Wasser (ANPRAC) dagegen sagt, Werbung sei Sache der jeweiligen Unternehmen. Als Verband könne man sich zu den Strategien einzelner Unternehmen nicht äußern. Eine generelle Strategie, beispielsweise gegen die Etikettierung, gebe es nicht. Auch würden die Mitglieder die gültigen Regularien und Gesetze strikt einhalten.
Ähnlich äußert sich Coca-Cola in einem schriftlichen Statement, das eine Sprecherin übermittelt. „Bei der mexikanischen Coca-Cola-Industrie halten wir uns an alle in unserem Land geltenden Vorschriften, einschließlich derjenigen zur Produktkennzeichnung. Im Rahmen unseres Engagements für das Wohlergehen der Menschen bieten wir eine breite Palette von Produkten an, und es liegt in unserem Interesse, die Transparenz der von uns bereitgestellten Informationen zu fördern, einschließlich klarer und informativer Etiketten, um es den Verbrauchern zu erleichtern, eine ihren Lebensgewohnheiten entsprechende Wahl zu treffen.“
Wenn es eine Kampagne gibt, richtet diese sich im Allgemeinen nicht gegen die Kennzeichnungspflicht, sagt Magaña, sondern betone die Marke und deren soziale Verantwortung, „Die nationale Coca-Cola-Kampagne hieß: El amor multiplica (Liebe multipliziert). Die Botschaft war, dass Coca-Cola der Umwelt hilft, weil man Strände reinigte, dass es Frauen in den (indigenen) Gemeinden hilft, unternehmerisch tätig zu werden, dass es verantwortungsvoll mit Wasser umgeht usw.“ Zusammen mit Greenpeace kritisierte El Poder del Consumidor in einer Gegenkampagne die Coca-Coca-Werbung als Greenwashing. Coca-Colas Plastikverbrauch schädige die Umwelt, der Konzern sei einer der größten Umweltverschmutzer und ein Risiko für die Gesundheit der Mexikaner.
Aktuell läuft eine ständige Radio- und Fernsehkampagne
Die Regierung wiederum startete eine ständige Radio- und Fernsehkampagne, in der vor den Risiken von sogenanntem Junk Food gewarnt wird. Magaña aber findet die eher enttäuschend. „Wir hatten etwas Größeres erwartet, mit klareren Botschaften, mit Informationen darüber, wie die Etikettierung zu verwenden ist. Die Botschaft der Kampagne aber blieb beschränkt darauf, dass ultraverarbeitete Lebensmittel nicht gut für die Gesundheit sind, ohne die Warnhinweise zu erklären.“
Sie fordert weitere Regulierung – vor allem bei der Werbung. „Wie regulieren wir Werbung in anderen Bereichen, zum Beispiel in der digitalen Welt? Wie können wir diese Influencer-Räume und alles, was sich in den sozialen Netzwerken abspielt, stärker einschränken?“ Es gebe noch viel zu tun, sagt sie.