Von Peter Hanser
Herr Sengpiehl, wie wirkt sich die Digitalisierung auf Marketing und Unternehmenskommunikation aus? Warum brauchen Unternehmen eine agile Marketingorganisation?
JOCHEN SENGPIEHL: Die Veränderungen gehen in mehrere Richtungen: Zum einen werden die bisherigen Silostrukturen – hier Marketing und Werbung, dort klassische Produkt-PR und Corporate Communications – immer weiter zusammenwachsen. Damit entstehen neue Strukturen: weg von vertikalen hin zu horizontalen Organisationsformen. Die Kommunikationsabteilungen müssen sich also neu erfinden. Dabei werden große Hersteller und Marken zu ihren eigenen „Brand Publishern“. Sie werden immer stärker gemeinsam weltweit Inhalte kreieren und verteilen. Die Kundenansprache erfolgt infolgedessen immer weniger indirekt über Mittler. Das bedeutet: bezahlte Inhalte – Paid Content also – dienen zukünftig ausschließlich der Generierung von Traffic in den digitalen Medien. Unternehmen werden dazu übergehen, Kunden über eigene digitale Kanäle („Owned Media“) als auch klassische Medien („Earned Media“) zu erreichen. Ein erfolgreicher Ausbau beider Kommunikationswege kann dabei nur über qualitativ hochwertige Inhalte erfolgen. Ein wichtiges Werkzeug hierfür sind sogenannte Content-Hubs.
Mit der Präsentation des Hyundai Ioniq sind wir diesem neuen Ansatz bereits gefolgt. Eine voll integrierte digitale Plattform ist das Herzstück unserer neuen Kampagne für den Ioniq, der als weltweit erstes Fahrzeug die Wahl zwischen drei verschiedenen elektrischen Antriebvarianten bietet. Die Plattform haben wir gemeinsam mit der Agentur Razorfish sowie Facebook und Google entwickelt.
Welche organisatorischen und kulturellen Konsequenzen ergeben sich hieraus für das Marketing?
Wie bereits gesagt: Das Marketing muss sein altes Silodenken aufgeben. Dies erfordert eine neue Offenheit, ein stärkeres Miteinander, flachere Hierarchien und die Demokratisierung von Inhalten und Wissen. Alle Abteilungen entlang der Customer Journey müssen weg vom vertikalen hin zum horizontalen Denken und Handeln kommen. Berufsbilder werden sich extrem verändern und das über alle Abteilungen hinweg mit einem starken Bezug zum Kunden. Dabei wird die voranschreitende Digitalisierung für eine immer schnellere, leistungsfähige und effizientere Kommunikationsarbeit sorgen. Hinzu kommen die alten Legacy-Systeme, die Datensilos, die es bis heute Herstellern und Händlern gleichermaßen unmöglich machen, eine ganzheitliche Sicht auf ihre Automobilkunden zu entwickeln. Dieser automobile Daten-Föderalismus ist daher eine weitere massive Hürde auf dem Weg zur kundenzentrierten „Total Customer Experience“, die unbedingt beseitigt werden muss.
Wie verändert sich die Rolle des Marketings? Vom Informationssteuerer und -verteiler zum Moderator zwischen Unternehmen und Kunden?
Da es langfristig dank offener Plattformen und Schnittstellen zu einer Verschmelzung von klassischer Kommunikation, Marketing und Vertrieb kommen wird, bleibt die Informationssteuerung und -verteilung auch weiterhin auf der Agenda dieser integrierten Teams. Doch durch die Vielzahl neuer digitaler Kanäle ergeben sich andererseits auch vollkommen neue Optionen für die Kommunikation mit dem Kunden. Damit einhergehend werden Unternehmen in immer größerem Umfang ihre eigenen interaktiven Medien- und Kommunikationskanäle für ihren eigenständig produzierten Content aufbauen, um näher an ihre Kunden zu rücken und auch unmittelbares Feedback zu erhalten – sie werden also zum Brand Publisher.
Wie wird sich die Arbeit für Kommunikationsprofis verändern, wenn im Zeitalter von Industrie 4.0 und dem Internet of Things zunehmend Algorithmen Einzug in die Kommunikation halten?
Kommunikatoren werden in mehrfacher Hinsicht vom Internet of Things sowie neuen intelligenten Werkzeugen zur Datenauswertung profitieren: etwa für die Suche nach neuen Inhalten, nach Zusammenhängen, Trends oder Veränderungen. Eine neue Generation von Algorithmen ist in der Lage, in unglaublicher Geschwindigkeit enorme Datenmengen zu filtern und Kommunikatoren sehr gezielt bei ihrer Arbeit zu unterstützen. In unserer beschleunigten Informationsgesellschaft mit einer stetig wachsenden Vielfalt an Quellen unterschiedlicher Provenienz und Glaubwürdigkeit werden sie damit zu einer wichtigen und wertvollen Hilfe für die Unternehmens-PR. Denn die Kommunikationsabteilung wird zukünftig mehr liefern müssen als die bisher üblichen Produkt- oder Unternehmensnachrichten. Ihr wird als Editorial Office immer stärker auch die Rolle eines echten Newsdesks zufallen, der Nachrichten und relevante Inhalte auch jenseits der „hausgemachten“ Neuigkeiten liefert.
Hinzu kommen neue Formen und Möglichkeiten der Personalisierung, neue interaktive Formate sowie die Erschließung neuer Zielgruppen. Das Ziel muss es sein, relevanten Content für die richtige Zielgruppe über die passenden Kanäle zum jeweils besten Zeitpunkt zu liefern. Ein solches agiles Vorgehen ist meiner Meinung nach überlebenswichtig, denn in Zeiten abnehmender Markentreue und Loyalität einerseits sowie einer Vielzahl von Optionen andererseits kommt es mehr denn je darauf an, den Kunden zum möglichst idealen Zeitpunkt mit der richtigen Aktion genau dort abzuholen, wo er sich gerade befindet.
Welche Relevanz und Zuständigkeiten hat die Marketingabteilung zukünftig im Unternehmen? Welche Eigenschaften zeichnen agile Marketingorganisationen aus?
Um ein ganzheitliches Kundenerlebnis zu schaffen wird die Relevanz integrierter Kommunikations-/Marketing- und Vertriebsteams weiter wachsen. Wobei es sich für Marketing und Kommunikation dabei sehr viel mehr um die gezielte Produktion von relevantem Content drehen wird, der dann schließlich auch von den unterschiedlichen Akteuren im Vertrieb genutzt werden kann. Damit treten anstelle einzelner Kommunikationsabteilungen, die alle ihre eigenen Inhalte stricken, ihre Kampagnen konzipieren und diese dann nicht selten auch noch unabgestimmt ausrollen, integrierte „atmende“ Teams, die Inhalte über Plattformen organisieren, managen und distribuieren. Die Agilität zeigt sich dabei in der Fähigkeit, innerhalb kürzester Zeit gemeinsame Entscheidungen zu treffen und über die unterschiedlichsten Kanäle hinweg auf neue Entwicklungen und Trends möglichst umgehend zu reagieren.
Welches sind die neuen Erfolgsfaktoren im Marketing? Wie weit sind schon agile Arbeitsmethoden im Marketing verankert?
Um den Kunden direkt zu erreichen, wird die Massenkommunikation zur Eins-zu-eins-Kommunikation. Denn dank der Digitalisierung ist es möglich, die Inhalte kundenspezifisch auszuspielen. Datentools helfen dabei, diese Ansprache zu segmentieren, zu messen und zu optimieren. Marketing wird damit effizienter, präziser und messbarer. Allerdings benötigt es mehr denn je kreativen Content. Denn mit den spezifischeren Möglichkeiten der Kundenansprache ist auch die Erwartungshaltung der Kunden gewachsen.
Erfolgsfaktor Nummer eins in diesem Kontext ist das Kundenverständnis: Alles muss von den Bedürfnissen und vom Kundennutzen her gedacht werden. Erfolgsfaktor Nummer zwei ist Personalisierung: Je besser ich meinen Kunden kenne, desto individueller kann ich ihn beraten und betreuen. Erfolgsfaktor Nummer drei sind Antizipation und Reaktionsfähigkeit: Je früher Trends erkannt werden, desto schneller können neue Strategien und Ansätze entwickelt werden. Der Schlüssel für den Erfolg liegt in der Nutzung neuer Technologien und intelligenter Analyse-Tools. Diese werden, das sind jedenfalls mein Eindruck und meine Erfahrung, noch viel zu selten und allenfalls punktuell genutzt. Agile Arbeitsmethoden im klassischen Sinn – mit sich selbst organisierenden, interdisziplinären Team, die mit bewusster Priorisierung Abläufe wirklich schlank halten, Kundenwünsche rasch umsetzen und jederzeit flexibel auf Veränderungen eingehen – sind bisher gerade in unserer Industrie kaum anzutreffen.
Welche Hürden sind auf dem Weg zu einer agilen Marketingorganisation zu überwinden?
Die größte Herausforderung ist der Change-Prozess, in dessen Verlauf die unterschiedlichen Kommunikationsdisziplinen zusammenwachsen müssen. Ich sagte es bereits: vertikale Organisationsstrukturen werden zu horizontalen. Entsprechend muss sich die Organisation umstellen. Zu diesem Change-Prozess gehören neue Berufsbilder, neue Prozesse und neue Qualifikationen der Mitarbeiter.
Die Hürden entlang dieses Prozesses habe ich schon genannt: das sind vor allem die Silos, die hierarchischen Strukturen in den etablierten Unternehmen und die Trägheit in den Organisationen. Immer mehr, vor allem kleinere und jüngere Unternehmen, versuchen sich hier an neuen Modellen der Mitarbeiterorganisation, -partizipation und -verantwortung. Das klappt mal mehr, mal weniger gut und lässt sich natürlich auch nicht so ohne weiteres auf größere Betriebe übertragen. Dennoch müssen wir stärker als bisher Veränderungsbereitschaft fordern und den Willen dazu in die Köpfe unserer Mitarbeiter bringen, ihre Eigenverantwortung fördern und damit natürlich auch ihre Entscheidungsbefugnisse stärken. Vielleicht bringt das an der einen oder anderen Stelle mehr Unsicherheit ins System, aber die Alternative wäre Rückschritt. Und den kann keiner wirklich wollen.
In der aktuellen Ausgabe 12/2016 geht es auch um das Thema Agilität. Die Ausgabe finden Sie HIER