Von Peter Hanser
Herr Dr. Thiemer, was verkauft Mercedes 2030: Autos, Mobilität oder Lebensstil?
JENS THIEMER: Alles drei. Wir sind als Marke und als Konzern auf dem Weg von einem Automobilhersteller zu einem vernetzten Mobilitätsanbieter. Dazu zählt ein Angebot absolut wettbewerbsfähiger und führender Automobile in Hinblick auf Qualität, Sicherheit und Komfort, aber auch in Hinblick auf die Themen Digitalisierung und Vernetzung. Mit der Marke „Mercedes me“ haben wir den ersten Schritt hinsichtlich eines ganzheitlichen Ökosystems getan, bei dem ganz unabhängig vom Besitz eines Mercedes-Benz viele weitere Dienste angeboten werden. Die Angebote fügen sich in die Lebenssituation des Menschen ein und antizipieren zum richtigen Zeitpunkt entsprechende Bedürfnisse aus der Welt der Mobilität. Durch die Daten, die uns zukünftig aus der Nutzung des Autos, aber auch aus dem Klickverhalten des Kunden zur Verfügung stehen, kommen wir zu einem echten Predictive-Sales- und -Marketingprinzip. Das bietet dem Kunden echte Bereicherung und macht es für uns effizienter, Marketing zu betreiben. Das ist die Zukunft, die unsere Branche prägen wird.
Ist Mercedes dann 2030 ein Serviceunternehmen mit angeschlossener Autoproduktion?
Wir bleiben in erster Linie Automobilhersteller, sehen aber heute schon eine klare Tendenz, dass Autos mehr und mehr geteilt werden und dass Eigentum nicht mehr das allein entscheidende Kriterium ist. Mercedes-Benz ist auf diese Entwicklung schon heute vorbereitet. Wir sind zum Beispiel was die Megatrends „Car-Sharing“ und „autonomes Fahren“ angeht in einer führenden Position. Und das Fahrzeug an sich sowie die Marke werden für autonome Mobilität noch wichtiger. Denn in welches Auto welcher Marke setzen Sie sich lieber rein: vermutlich in eines, das qualitäts- und vor allem sicherheitsmäßig über die letzten 130 Jahre die Standards der Branche gesetzt hat.
Wer werden dann Ihre Wettbewerber sein: Google, Apple, Tesla, Uber oder die klassischen Automobilhersteller?
Die Automobilbranche ist eine der interessantesten Industrien, die es weltweit gibt. Sonst würden nicht so viele Interesse zeigen, sich ein Stück vom Kuchen abzuschneiden oder die Wertschöpfungskette zu verlängern oder zu verbreitern. Das heißt nicht, dass alle diese Firmen zu einem Automobilhersteller werden. Aber viele drängen in unsere Branche und wir empfinden das auch im Sinne eines „frenemy“(friends and enemies)-Ansatzes über potenzielle Kooperationen als bereichernd. Der Kunde wird hiervon am meisten profitieren.
50 Prozent der iPhone-Nutzer, das sind rund fünf Millionen in Deutschland, würden sich für ein iCar von Apple entscheiden. Beunruhigen Sie solche Zahlen?
Nein, denn wir sind stark genug und haben bereits heute ein absolut attraktives Gesamtpaket für den Kunden, wie auch unsere aktuellen weltweiten Verkaufszahlen zeigen. Wir haben ein Portfolio, mit dem wir sowohl bei der Antriebstechnologie als auch bei der Vernetzung und der Digitalisierung – zwei ganz wesentlichen Treibern für den Autokauf der Zukunft – vorne dabei sind. Jeder zweite Käufer unserer Kompaktwagenklasse – A-, B-Klasse, CLA, GLA – in Deutschland und Westeuropa hat vorher ein Fremdfabrikat gefahren, die Ausweitung unseres Portfolios hat also viele Menschen neu in den Kundenstamm von Mercedes gebracht. Dadurch haben wir auch maßgeblich unsere Markenstruktur verjüngt, in der A-Klasse um 13 Jahre. Es gibt inzwischen keine Berührungs.ngste mehr hinsichtlich einer Premium- und Luxusmarke wie Mercedes, ganz im Gegenteil: Wir reden international über die neue Mercedes-Begehrlichkeit und sehen unser Momentum auf Kundenseite.
Die Mobilitätskonzepte sind gerade ein Thema für junge Leute. Muss sich die Marke Mercedes nicht neu erfinden, neu positionieren, um diese Zielgruppe anzusprechen?
Junge Leute gehören mit Sicherheit zu den First Movern. Wir stellen aber fest, dass es weniger eine Altersfrage ist als eher eine Frage der regionalen Betrachtung – Stichwort Großstadt und Megacity. An der Nutzerstruktur von „Mercedes me“ sehen wir, dass wir die Menschen mit unserem Angebot altersübergreifend und vor allem baureihenübergreifend erreichen. Aber natürlich muss sich auch Mercedes stetig neu erfinden. Das ist unser Anspruch. Mit unserem Claim „Das Beste oder nichts“ haben wir eine Haltung formuliert, die gar nicht nur produktfokussiert ist, sondern die als Haltung das Neue immer wieder hervorhebt: Das Beste für unsere Kunden.
Ist der Claim „Das Beste oder nichts“ nicht zu sehr von der technischen Leistungsfähigkeit geprägt und trifft weniger das Thema Lebensstil?
Es ist ein anspruchsvoller Satz, aber wir haben ihn bewusst gewählt, um unsere Haltung – das, was uns treibt – auf den Punkt zu bringen. Und so lösen wir ihn heute mehr denn je ein. In der Kundenwahrnehmung ist Mercedes momentan immer noch stark verankert als Automobilhersteller. Aber inzwischen haben immer mehr Menschen Mercedes in ihrem Relevant Set als Anbieter eines ganzheitlichen Mobilitätskonzepts. Diese Reise setzen wir konsequent fort. Sie haben gerade die Bedeutung des Autos im Rahmen der Mobilitätskonzepte betont.
Welche Auswirkungen werden die Mobilitätskonzepte auf den Autoabsatz haben, wenn in den Citys 90 Prozent weniger Autos als heute benötigt werden? Wo verdient Mercedes zukünftig sein Geld: beim Autoverkauf oder mit den Mobilitätskonzepten?
Die Entwicklung kann dazu führen, dass in 15, 20 oder 30 Jahren im globalen Automarkt weniger Autos verkauft werden. Dazu gibt es unterschiedliche Thesen. Es muss so oder so gelingen, alle Mobilitätsangebote unabhängig vom klassischen Autokauf profi tabel zu machen. Das Thema geht einher mit einer konsequenten Digitalisierung der gesamten Wertschöpfungskette. Das beginnt in der Vorentwicklung und geht über die Produktion bis hin zu Marketing- und Sales-Strukturen. Strukturell heißt das für uns, dass Autos schneller entwickelt und über die Interaktion zwischen Mensch und Maschine schneller produziert werden können. In Sales und Marketing geht es vor allem um das berühmte „Segment of One“. Unsere Vision ist, dass jeder einzelne Kunde eine Mercedes-ID erhält. Dann können wir eine individuelle Marken- und Dienstewelt um ihn herum bauen, die absolut maßgeschneidert ist und Mobilität neu erfindet.
Wenn es diese individuelle Kommunikation mit dem Kunden, der unterschiedliche Bedürfnisse hat, gibt, wo befindet sich die Klammer, die den gesamten Markenauftritt zusammenhält?
Diese Klammer heißt bei uns „Best Customer Experience“. Dabei geht es darum, sämtliche Berührungspunkte des Kunden – von digital bis physisch – mit der Marke aufeinander abzustimmen und die dahinterliegenden Prozesse und Systeme schlüssiger zu machen. Täglich stehen wir durchschnittlich mit einer halbe Million Menschen auf unseren Social-Media- und Digitalplattformen im Dialog und können Kunden entsprechend ihren Bedürfnissen ganz anders kennenlernen als in der Vergangenheit. In diesem Kontext haben wir zum Beispiel unseren neuen Lifestyle-Konfigurator entwickelt, der fertig konfigurierte Modelle nach Angabe persönlicher Vorlieben aus den Bereichen Sport, Essen, Reisen oder Architektur empfiehlt, ganz ohne technisches Vorwissen. Ein anderes Thema sind die physischen Berührungspunkte mit der Marke, die nahtlose Verzahnung zwischen Sales und Aftersales und vor allem die Kombinatorik mit ganz neuen Markenplattformen. Deshalb haben wir eine Initiative wie „Mercedes me“ auch nicht nur als reines Digital-Portal gestaltet, sondern unsere seit Jahren vorhandene Innenstadtstrategie mit den „Mercedes me Stores“ weiter aufgebohrt. Mit diesem Konzept erreichen wir die Menschen dort, wo sie sich gerne aufhalten: in den Herzen der Städte.
Ihre Vorgänger haben auch schon versucht, Mercedes als Lebensstilmarke zu profilieren. Was ist dieses Mal anders?
„Das Momentum, das Mercedes aktuell im Markt hat“, ist darauf die einzig richtige Antwort. Das sehen Sie an den Verkaufszahlen, an den Vergleichstests, an den Auszeichnungen und den Kundenfeedbacks. Wir haben mit dem August den 30. Rekordmonat in Folge aufgestellt, und das mit einer hohen Profitabilität. Wir haben eine Situation erreicht, an der seit vielen Jahren strategisch gearbeitet wird. Die Produktsubstanz ist so schlüssig und attraktiv wie nie – sowohl im Design als auch in Technik und Qualität. Und auch im Marketing treten wir weltweit schlüssiger, integrierter und attraktiver denn je auf. Mercedes wird lässiger, Mercedes wird cooler, Mercedes ist ganz einfach modern und steht für Innovation und Zukunft.
Brauchte der Weg zur coolen Marke auch eine neue Agentur? Warum konnte sich im Pitch keine der etablierten Agenturen durchsetzen?
Man braucht nicht Veränderung per se. Das würde viel zu viel Unruhe bringen. Sie brauchen aber die besten Partner zum richtigen Zeitpunkt an Ihrer Seite, um eine Marke konsequent weiterzuentwickeln. Wir wollten eine Agentur, die erst einmal eine hundertprozentige Fokussierung auf uns als Marke und unsere Strategie hat. In der öffentlichen Diskussion ist ein bisschen verloren gegangen, dass es um den Europa-Lead unserer Marke ging, den es in der Form bisher so gar nicht gab. Der folgt unserem neuen Vertriebszuschnitt. Wir haben uns verabschiedet von einer weltweiten Leitagentur. Zukünftig bauen wir in den drei großen Vertriebsregionen USA, China und Europa auf drei Agenturen, die auf Augenhöhe miteinander interagieren. Wir werden aus einer Headquarter-Sicht diese Agenturen gleichgewichtet ansteuern und nutzen sie als internationale Sparringspartner, weil sie sich alle drei in ganz anderem kulturellen Kontext bewegen.
War es für Sie nicht ein hohes Risiko, ein solches Volumen an eine noch neue, zu gründende Agentur zu geben?
Ich würde es nicht undifferenziert Risiko nennen. Solche Entscheidungen, in diesem Fall für die neu nur für uns gegründete Agentur Antoni, treffen Sie vor allem aus einer Position der Vision und der Stärke heraus. Die aktuelle Sales-Situation, die aktuelle Markenwahrnehmung und die aktuelle Team-Konstellation sind so gut, dass man dieses unternehmerische Risiko kalkuliert, aber auch emotional eingehen kann.
Haben Sie die Reaktionen auf die schnelle Gründung einer neuen Agentur nach Ihrer Pitch-Entscheidung überrascht?
Die Reaktionen haben mich nicht überrascht. Die Reaktionen sind geprägt von einer hohen Motivation von vielen Involvierten, was alle Beteiligten ehrt. Wir empfinden hier eine hohe Wertschätzung und blicken auch mit Dank und Respekt auf die sehr gute Zusammenarbeit mit Jung von Matt in den letzten Jahren zurück.