Gehören Sie zu denjenigen, die vor einer Wand mit Graffiti stehen bleiben und sich über die “Schmierereien” echauffieren? Oder erkennen Sie die Kunst dahinter? In beiden Fällen lässt sich sagen, dass Graffitis wahrscheinlich seit Jahrzehnten dieselbe Wirkung erzielen möchten und auch getan haben: Sie generieren Aufmerksamkeit.
Das haben auch große Marken erkannt und setzen deshalb nicht nur auf klassische Out-Of-Home-Werbung auf Plakatwänden oder digitalen Screens. So konnte man beispielsweise vor einigen Jahren eine riesige, fluoreszierende Maus auf einer Hauswand sehen – im Zuge einer Werbung für die Netflix-Serie Biohackers.
Graffiti-Werbung: von der Idee zum fertigen Motiv
Was man meist nicht zu sehen bekommt, ist die ganze Arbeit dahinter. Was braucht es also alles, um Graffiti-Werbung von der Idee bis hin zum fertigen Motiv umzusetzen?
Hier kommt Basa Studio, die Agentur von Charlotte Specht, ins Spiel. Gemeinsam mit Mario Rueda hat sie diese ursprünglich in Lissabon gestartet. Mittlerweile arbeitet sie von Berlin aus, genauer gesagt aus Kreuzberg – einem Kiez, in dem etliche Gebäudewände Murals schmücken. “Viele Marken wollen nicht einfach selbst die Künstler*innen buchen, sondern uns als Expert*innen an ihrer Seite wissen. Wir begleiten die Kampagne, geben Empfehlungen und kümmern uns um die Wand, an der alles umgesetzt wird”, erklärt Specht. Dafür müssen die Kund*innen eine gewisse Vorarbeit leisten und sich erstmal über ein paar Fragen klar werden: Soll eine bestehende Kampagne verlängert werden? Gibt es eine bestimmte Offline- oder Online-Aktion dazu? Wird das ganze auf Social Media verlängert? Welche Zielgruppe soll erreicht werden? Und was soll überhaupt auf der Wand zu sehen sein?
Inspiration aus dem Ausland
Viele Marken lassen sich hier vom Ausland inspirieren. In New York zieht die Gucci Art Wall jede Menge Blicke auf sich und in London sieht man in Stadtteilen wie Camden immer wieder riesige, werbliche Kunstwerke auf Gebäudewänden. Die ganze Welt setzt auf Graffiti-Werbung, Deutschland hingegen auf Bürokratie.
“Es ist definitiv schwieriger, hier eine Genehmigung zu bekommen. Wir haben teilweise Kund*innen, die eine Kampagne in ganz Europa machen und sind überrascht davon, wie schwierig es hierzulande ist – vor allem in Städten wie München oder Frankfurt”, erklärt Agenturchefin Specht. Ihre Arbeit beginnt zwar oft mit einem kreativen Brainstorming, trotzdem ist der organisatorische Part nicht zu unterschätzen. Bei jeder Kundenanfrage wird geprüft, ob auf eine Vielzahl von Flächen zurückgegriffen werden kann. Ist nichts Passendes dabei oder wünschen sich die Kunden eine bestimmte Location, recherchieren sie neue Wandflächen und finden heraus, ob diese für Graffiti-Werbung verfügbar sind und wer dafür zuständig ist – Hausverwaltung, Stadt, Eigentümer oder Betrieb.
Beispiel Aldi Süd: Murals als Teil der Mediastrategie
Eine Out-Of-Home-Werbung auf Plakatwänden scheint deutlich einfacher zu sein, trotzdem sind immer wieder Marken davon überzeugt, lieber auf künstlerische Graffitis zu setzen – so wie Aldi Süd. Eine Pressesprecherin der Marke erklärt: “Murals sind bei Aldi Süd seit langem Bestandteil des Media Set-ups. Damit sprichen wir vor allem die junge Zielgruppe in urbanen und hochfrequentierten Räumen an. Aufgrund der handgemalten Kunst heben sich die Murals deutlich ab und kommen sehr gut an.”
Das ist der springende Punkt – das Graffiti muss sich von normaler Plakatwerbung abheben, sodass es wirklich etwas Besonderes ist. Specht sagt: “Oft ist es so fotorealistisch, dass erst auf den zweiten Blick klar wird, dass es ein Graffiti ist. Das ist in meinen Augen eine verpasste Chance, weil die Marken nicht auf die Künstler*innen eingehen – eigentlich geht es doch um eine Kollaboration.” Auch hier wünscht sie sich weniger Vorgaben und mehr Platz für Kreativität.
Aldi Süd hat das längst verstanden, wie eine Pressesprecherin erklärt: “Wir arbeiten sehr eng mit Künstler*innen und Partner*innen zusammen und passen Motive sehr aufwendig und selektiert auf verschiedene Standorte an.”
Eine Kampagne kostet um die 100.000 Euro
Aktuell könnten sich vor allem große Marken wie Netflix, Adidas, Nike oder Apple Graffiti-Werbung leisten. Bei einer Laufzeit von 28 Tagen, was die Entstehungszeit bereits inkludiert, kostet so eine Kampagne um die 100.000 Euro.
“Allein der Mediapreis beträgt bis zu 50.000 Euro. Dazu kommen noch Kosten für Gerüst, Material, Farbe und Security-Dienst, der die Wand bewacht, sodass sie nicht übermalt wird. Am Ende bleibt oft nur wenig Geld für die Künstler*innen übrig”, so Charlotte Specht. Deshalb habe sie mit ihrer Agentur früh angefangen, dafür zu sorgen, dass die Künstler*innen pro Auftrag vier- bis fünfstellig verdienen. “Es gibt teilweise Anbieter, die zahlen nur 300 Euro Tagessatz, nehmen aber selbst sechsstellige Beträge für die Wand.”
Über diesen Missstand wird in ihren Augen oft nicht gesprochen. Viele Agenturen seien der Meinung, es sei ein Privileg, für große Marken arbeiten zu dürfen – das könne man schon mal für einen geringen Tagessatz machen. Tatsächlich wissen die Marken selbst oft gar nichts davon, weil die Kosten ja nicht transparent aufgeschlüsselt werden.
“Graffitis sind riesige Showstopper”
In Zukunft wird Graffiti-Werbung in anderen Ländern zwar groß werden, in Deutschland bleibt abzuwarten, wie die Hürde mit der Bürokratie ist und ob Marken die Chancen überhaupt nutzen. “Graffitis sind riesige Showstopper. Man kann Spezialeffekte, Licht oder 3D-Motive nutzen, um nicht überall das Gleiche zu machen”, sagt Charlotte Specht. “In Asien wird mittlerweile viel mit Augmented Reality gearbeitet, sodass die Kampagne digital verlängert, ein Gewinnspiel veranstaltet oder mit QR-Codes gearbeitet wird.”
Genauso spannend und wirkungsvoll sei bereits der Entstehungsprozess, weil man das Live-Painting beispielsweise via Social Media begleiten und auch an der Gebäudewand selbst Aufmerksamkeit generieren könne – aber auch ein offizieller Kampagnen-Reveal kann Aufmerksamkeit generieren und die Leute zum Staunen bringen.
Wer also nach einer Alternative für klassische Außenplakate oder digitale Screens sucht, sollte sich Graffiti-Werbung auf jeden Fall einmal anschauen.