Gegensätzlicher könnten die zugrundeliegenden Technologien dieser beiden Hypes nicht sein: Während das Metaverse mit seinen alternativen Realitäten stets neue, teure „Gesichts-Geräte“ fordert, die so kompliziert zu bedienen sind, als solle man einen VHS-Rekorder in Schwerelosigkeit programmieren, ähneln ChatGPT und seine Geschwister dem vielleicht einfachsten Web-Interface, das je erfunden wurde: dem Suchfeld.
Dass Einfachheit siegt, zeigen frühere Erfolge: Google schaffte es 1997 mit seinem Suchschlitz an die Spitze der Suchmaschinen, dann an die Spitze der Internetfirmen und zuletzt unter die Top 10 der wertvollsten Unternehmen der Welt. 25 Jahre später versucht sich nun OpenAI an der Revolution des Suchschlitzes. Als das Unternehmen am 30. Oktober 2022 für die Öffentlichkeit ChatGPT kostenlos zur Verfügung stellte, meldeten sich innerhalb von fünf Tagen eine Million Menschen an. Instagram brauchte für die Million über zwei Monate, Spotify fünf. Dem Erfolg von ChatGPT und anderer generativer KI steht also nichts mehr im Wege, oder?
Metaverse bringt Nutzende an ihre Grenzen
Für die Revolution durch Chatbots und die Verdrängung des Metaverse spricht die wesentlich angenehmere Ausgabe der Signale. Während ChatGPT auf klug formulierte Prompts – wie Suchanfragen jetzt heißen – mit perfekt formulierten, überraschenden, witzigen, vielfältigen, unterhaltsamen, informativen oder nützlichen Texten antwortet, bringt das Metaverse Nutzende ständig an ihre Grenzen. Achterbahnfahrten in VR und die anschließende Motion Sickness (Schwindelgefühle, Übelkeit oder allgemeines Unwohlsein) nötigen zur stabilen Seitenlage. Avatare, die Verkörperung der Nutzenden in virtuellen Räumen, lassen Details vermissen, schauen gefühllos ins Leere oder, noch schlimmer, es fehlt ihnen an Beinen.
Die Headsets sind schwer, hinterlassen rote Ränder im Gesicht, zerstören die Frisur und belasten den ohnehin schon gekrümmten Homeoffice-am-Küchentisch-Nacken. Mit etwas Pech schlägt der engagierte Metaverse-Besuchende beim Musikspiel „Beat Saber“ mit den Händen in den Zimmerkaktus. Im Frühjahr 2022 berichtete „The Guardian“ über einen Anstieg an VR-bezogenen Versicherungsfällen von 31 Prozent. Headset-Verkäufe sind nach einem Hoch im Jahr 2022 im Tal der Tränen angekommen. Mit einem Metaverse-LinkedIn-Post bringt man nur noch die Fans zum Liken. Schlimmer hat’s nur die Kryptoanhänger erwischt, die nun auf KI umsatteln müssen. Vielleicht verlässt man sich bei manchen beruflichen Entscheidungen dann doch besser auf den LinkedIn-Algorithmus.
Das Metaverse ist tot, lang lebe die KI
Das Ende des Metaverse-Hypes war absehbar. Und die Zukunft ist fern, in der wir alle mit Schuhschachteln auf dem Kopf und mit des Avatars neuen Kleidern im Metaverse-Megamarkt NFTs kaufen. Während das Metaverse mit seinen vielen Mängeln also offenbar kein Zukunftskandidat ist, rollt die Welle der generativen KI über das digitale Neuland. Das Metaverse ist tot, lang lebe die KI, schallt es von den LinkedIn-Kanzeln. Selbst Mark Zuckerberg scheint sein Metaverse gegen Künstliche Intelligenz ausgetauscht zu haben. War Nvidias Unternehmenskonferenz im Vorjahr noch eine Ode an das Metaverse und die hauseigene Plattform Omniverse, feiert der US-amerikanische Grafikkartenkonzern nun die Errungenschaften des Maschinellen Lernens.
Die Welle stieg so hoch, dass Google Ende des vergangenen Jahres Alarmstufe Rot ausrief. Der Erfinder des Suchschlitzes beorderte alle Mann an Deck und präsentierte nur wenige Monate später auf der hauseigenen Entwicklerkonferenz mit Google IO (gesprochen Ei-Oh) eine ChatGPT-Alternative: Google Bard, einen aufgeschlauten Suchschlitz, der sogar in der Lage ist, weiterführende Prompts vorherzusagen. Dazu gab es etliche durch generative KI angereicherte Funktionen in Googles Workplace-Produkten. Ganz so leicht will sich Google also nicht die Butter vom Brot nehmen lassen.
Gegründet im Jahr 2015 als Non-Profit-Unternehmen und kofinanziert mit einer Milliarde US-Dollar, unter anderem mit Geld von Elon Musk, war die erste Aufgabe von OpenAI die Erforschung der Frage, inwiefern Künstliche Intelligenz eine existenzielle Bedrohung darstellen könnte. Zu diesem Zeitpunkt war die KI-Forschung bereits 70 Jahre alt.
Kritiker fordern KI-Pause
Mit der Digitalisierung und der Vernetzung der Welt durch das Internet konnte das Potenzial von KI-Technologien zur Entfaltung kommen. Die Beschleunigung der Prozesse und der Zugriff auf scheinbar unendlich viele und sehr billige Daten sowie Googles Durchbruch mit dem Deep-Learning-Transformer-Modell machten so was wie ChatGPT möglich.
Mit dem Geld von Microsoft, das als größter Investor mittlerweile mehrere Milliarden Dollar in OpenAI gesteckt hat, verabschiedete sich das Unternehmen schließlich von seinem ursprünglichen Zweck und stellt zukünftige Modelle nicht mehr der Forschergemeinde zur Verfügung. Es hängt nun ein Preisschild an ChatGPT. Außer man nutzt Microsofts Bing – werbefinanziert – oder hat ein Office-365-Abo. Hat sich der Forscher damit zum Teilnehmer einer Entwicklung gewandelt, zu deren Abwendung er eigentlich beitragen sollte?
Laut den Kritikern ja. In einem offenen Brief, den über 31.000 Menschen unterzeichneten, unter anderem Elon Musk, fordern sie eine KI-Pause zum Nachdenken über die Konsequenzen dieser revolutionären Technologien. Denn vielleicht würde dieser Hype, bevor er für beendet erklärt werden kann, sonst frühzeitig in die Zerstörung der Menschheit münden.
Die Gesetze von Hypes und Zyklen
Selten war bei Hype-Zyklen ein Wechsel so deutlich auszumachen wie bei Metaverse zu KI. So unterschiedlich diese beiden aufeinanderfolgenden Hypes zu sein scheinen – in ihren Technologien, den Nutzergruppen und ihren Signalen –, so sehr ähneln sie sich doch in ihrer Entwicklung.
Wie beim Wort „Metaverse“ hilft die Schwammigkeit des Begriffs „Künstliche Intelligenz“ dem Hype. Denn was meint Intelligenz in diesem Zusammenhang? Da es an die Intelligenz des Menschen angelehnt ist, wobei jedoch deren Definition selbst unter Experten umstritten ist, muss auch die künstliche Variante schwammig bleiben. Im Grunde ist das aber auch egal. Denn wenngleich Wissenschaftler*innen dem Ideal einer KI nacheifern, sind es doch die Marktmechanismen, die bestimmen, wie und wo KI-Technologien entwickelt und eingesetzt werden. Und gerade die begriffliche Schwammigkeit macht Zukunftsfantasien möglich und stützt somit das Grundprinzip von Hypes: die Übertreibung der Erwartungen an eine Technologie. Dies führt zur „Fear of missing out“ und lässt einem keine andere Wahl, als sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Hype Cycle nicht wissenschaftlich belegt
Sicher ist aber: Der KI-Hype wird enden. Woher wir das wissen? Es gibt keinen Hype, der für immer anhält. Und da wir den KI-Hype als Hype erkannt haben, ist auch sein Ende gewiss. „Aber der Gartner Hype Cycle!?“ – das ist oftmals kurz nach dem Ende eines Hypes zu hören. Damit beschreibt das Marktforschungsunternehmen Gartner den natürlichen Prozess bei der Entwicklung eines Hypes. Das Problem: Der Hype Cycle ist unwissenschaftlich, das heißt, es gibt keinerlei Studien oder Zahlen, die belegen, dass seine Prognose eines Verlaufs zutrifft. Technologieberater hält das allerdings nicht davon ab, den Hype Cycle als Begründung zu verwenden, um zu erklären, warum das investierte Geld nicht zum Fenster hinausgeschmissen ist.
Was können wir also tun? Zunächst muss uns klar werden, dass ein Hype „Future Appropriation“ ist: Hypes sind die Verkörperung des Narrativs, dass die betreffende Technologie nun unsere Zukunft zu sein habe. Dieser Übergriffigkeit vonseiten der Apologeten kann man getrost ein „Nein!“ entgegenhalten. Um sich dann aber die Technologien dahinter genauer anzuschauen. Meist sind diese schon seit Jahren oder seit Jahrzehnten in der Entwicklung. Wer durch einen Hype erst darauf gestoßen werden musste, sollte rasch daraus lernen, um sich dann am Ende eine informierte Meinung bilden zu können.
Mixed-Reality-Brille von Apple auf dem Markt
In Sachen Metaverse hat sich übrigens, obwohl der Hype ja vorbei ist, in der Zwischenzeit etwas getan. Mark Zuckerberg fühlte sich genötigt, dem Narrativ, Meta habe dem Metaverse aufgrund von KI abgeschworen, mit einem erneuten Langzeitengagement für das Metaverse zu begegnen. In der Zwischenzeit hat man sogar auf LinkedIn verstanden, dass KI für die Entwicklung des Metaverse äußerst hilfreich sein kann.
Eine Tatsache, die Brancheninsidern längst klar war. Wenige Wochen später kündigte Zuckerberg den Release der Quest 3 an, einer drastisch verbesserten Version der Quest 2, die die bislang meistverkaufte VR-Brille ist. Epic Games, der Hersteller von Fortnite und der Games-Engine Unreal, hat auf seiner hauseigenen Entwicklerkonferenz mit „Verse“ eine Programmiersprache für das Metaverse veröffentlicht und mit Unreal Editor for Fortnite ebenfalls sein Versprechen erneuert, am Bau des Metaverse zu arbeiten.
Und zuletzt ist das eingetreten, von dem die XR-Branche seit gut sieben Jahren feuchte Träume hatte: Apple hat mit der Apple Vision Pro eine eigene Mixed-Reality-Brille herausgebracht, die das Beste ist, was der Markt bis dato gesehen hat. Die eigentliche Stärke ist aber Apples Plattform, die den Entwickelnden zur Verfügung gestellt wird. Wenn das Gerät 2024 auf den Markt kommt, werden Hunderte Apps die Ära des „Spatial Computing“ einläuten, wie Apple es nennt, also die direkte Interaktion des Menschen mit digitalen Medien durch Körperbewegungen oder Sprache. Der Bau des Metaverse hat also soeben erst begonnen. Don’t miss out!