Was haben Sie im Silicon Valley gesehen, was wir hier dringend brauchen?
Christoph Keese, Vizepräsident Axel Springer: Eine einzigartige Kombination aus Leidenschaft, technischer Kompetenz, Visionskraft, Wagemut, Schnelligkeit, Begeisterungsfähigkeit und Durchhaltevermögen – bei Gründern, Universitäten und Investoren. In der Summe ergibt das ein weltweit einmaliges Ökosystem. Wir in Europa sollten es nicht kopieren wollen, aber wir können uns von ihm inspirieren lassen.
Was haben Sie gesehen, was wir auf keinen Fall wollen?
Keese: Hüten sollten wir uns vor kritikloser Übernahme dieses extrem ausgeprägten Glaubens an technische Machbarkeit. Es gibt nichts, glaubt das Silicon Valley, was sich nicht in Algorithmen fassen lässt. Dieser Aberglaube verleiht manchen Firmen und Unternehmen dort einen Hang ins Totalitäre. Ich glaube aber nicht, dass wir Europäer in der Gefahr schweben, diese Geisteshaltung zu übernehmen. Wir pflegen ja eher einen gesunden Skeptizismus. Das gibt uns die nötige Kraft, uns auf das Lernen von den Vorteilen des Silicon Valley zu konzentrieren.
Sie sprechen in Ihrem Buch ‚Silicon Valley‘ besonders von der gelebten Offenheit und Transparenz auch zwischen Konkurrenten. Warum halten Sie das für wichtig?
Keese: Weil offener Diskurs bessere Produkte hervorbringt, die auf den Märkten mehr Erfolg haben. Europa hat sich bei der Digitalisierung abhängen lassen. Das liegt vor allem daran, dass unsere Produkte längst nicht so gut sind. Wenn wir diese Schwäche nicht beseitigen, werden wir über kurz oder lang zur schlecht bezahlten, verlängerten Werkbank Kaliforniens.
Die hohe Entwicklungsgeschwindigkeit im Valley verlangt, dass die Gründer extrem fokussiert sind und zum Beispiel wenig auf Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Effekte achten. Kann es ein langsameres europäisches Gegenmodell geben?
Keese: Die These halte ich für falsch. Nach meiner Beobachtung achten die kalifornischen Gründer sogar sehr auf Nachhaltigkeit, viel mehr als wir Europäer. Sie übertreiben es zuweilen mit ihrem Machbarkeitsglauben, aber nachhaltig denken sie schon. Die meisten haben einen ausgesprochen leidenschaftlichen Hang zum Weltverbessern, und vielen gelingt das auch.
Wir versuchen mit Hilfe der Rechtsprechung Entwicklungen zu verlangsamen, wie etwa bei Uber. Sind solche juristischen Scharmützel nicht einfach nur Scheingefechte, die vor der Macht des Faktischen kapitulieren?
Keese: Nein, ganz im Gegenteil. Auch die USA sind stark reguliert. In diesem Regelrahmen bewegen sich alle Startups dort. Aber es sind halt die amerikanischen Regeln. Auf dem Weg über die Produkte werden diese Regeln nach Europa exportiert. Wenn wir Europäer eigene Regeln setzen wollen, müssen wir das selbstbewusst tun. Mit Maschinenstürmerei hat das nichts zu tun, eher mit staatlicher Souveränität.
Auch Springer hat sich beim LSR der faktischen Marktmacht von Google gebeugt.
Keese: Nein, das ist so nicht richtig. Im Gegenteil: Wir haben Google über die VG Media verklagt und führen mit aller Kraft einen wichtigen Prozess um das Leistungsschutzrecht. Dass wir vorübergehende Gratislizenzen eingeräumt haben, um dem Prozess Raum und Ruhe zu geben, ist nur logisch und keine Kapitulation.
Plattformen sind die Goldesel der Zukunft, selbst das Navi im Auto wird demnächst die Handelslandschaft beeinflussen. Wie das?
Keese: Wichtigster Wertschöpfungsteil des Autos der Zukunft ist der Bildschirm in der Mitte. Dort werden wichtige Kaufentscheidungen gefällt. In Zukunft sind Autos die Vehikel, die uns zum Einkaufen bringen, und unsere Fahrt zum nächsten Händler wird genauso im Hintergrund bei Nanosekundenauktionen versteigert werden wie heute schon unser Klick auf Werbung im Netz.
Wir haben im Onlinehandel eine recht rege Gründerszene in Deutschland, aber das reicht Ihnen noch nicht. Was müssen wir tun?
Keese: Das reicht nicht nur mir nicht, sondern das darf Deutschland nicht reichen. Im Silicon Valley werden 15 Milliarden Dollar Venture Capital pro Jahr investiert, in den USA insgesamt 30 Milliarden. In Deutschland ist es weniger als eine Milliarde. Im Ergebnis stranden selbst die besten deutschen Startups im regionalen und nationalen Mittelstand. Weltchampions können so nicht entstehen. Wenn wir dieses Problem nicht beheben, sieht es düster aus für Deutschlands Zukunft.
Sie wünschen sich, dass in Schulen eher C++ als Altgriechisch gelehrt wird. Geht es wirklich um Programmiersprachen und nicht eher um Denken in vernetzten Strukturen, Problemlösungskompetenz und Kreativität?
Keese: Gerne beides. Das ist ja kein Widerspruch. Vernetztes Denken, Problemlösung und Kreativität entstehen ja fast automatisch beim Programmieren.