Ihre Eltern waren dagegen, die meisten Freunde auch. „Igitt“, sagten sie, oder: „Mach doch bitte was Anständiges.“ Dann aber erzählte Lara Schuhwerk in einem Kurs an der Uni von ihrer Idee, Nudeln aus Insektenmehl herzustellen. „Schon am nächsten Tag kamen die ersten Kommiliton*innen und wollten probieren.“ Da wusste sie, dass es doch etwas werden konnte mit ihrer Gründung.
Heute, fünf Jahre später, gibt es nicht nur das Start-up namens Beneto, sondern mit dem ehemaligen Rennfahrer Nico Rosberg auch einen prominenten Investor. Das Sortiment „High Protein Pasta“ umfasst die Geschmacksrichtungen Natur, Tomate und Steinpilz. Das Besondere: Beigemischt sind 15 Prozent Grillenmehl – Fleischbeilage überflüssig. Die Fangemeinde ist klein, aber sie wächst: Gestartet war Schuhwerk 2019 mit 200 Kilogramm Rohware, inzwischen hat sie mehrere Tonnen verkauft. Die 30-Jährige ist zuversichtlich: „Insektenfood wird eines Tages ‚in‘ sein.“ Ihre Marke soll für den neuen Trend stehen.
Noch sind Lebensmittel aus Heimchen, Mehlwürmern oder Heuschrecken ein klarer Nischenmarkt – aber einer mit Potenzial, sagen Fachleute. Wie pflanzliche Eiweißspender, Fleisch aus Zellkulturen oder invasive Gliederfüßler gehören sie zum Segment Alternative Proteinquellen (APQ), das in den vergangenen Jahren einen massiven Aufschwung erfahren hat. Dafür sorgen die Experimentierfreude einer polyglotten Generation, das steigende Gesundheitsbewusstsein und vor allem der Klimawandel: APQ haben einen geringeren CO2-Fußabdruck als konventionelles Fleisch und sind damit für nachhaltig orientierte Konsument*innen attraktiv.
Sushi war auch mal igitt. Heute würde jede*r achte Bundesbürger*in Insekten essen
Die International Platform of Insects for Food and Feed (IPIFF), ein europäischer Interessenverband, schätzt, dass 2030 in Europa rund 260.000 Tonnen insektenbasierte Lebensmittel verkauft werden. Gegenüber 2019 wäre das eine Steigerung um fantastische 52.000 Prozent. Auch der Potsdamer Ernährungswissenschaftler Florian Schweigert schreibt in seinem 2020 erschienenen Buch „Insekten essen“: „Schon in fünf bis zehn Jahren werden sie auch in unseren Supermärkten wie selbstverständlich im Regal zu finden sein.“ Das klingt erst mal verwegen. Doch hat einst nicht auch Sushi in Deutschland heftige Abwehrreaktionen ausgelöst? Bei einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im vergangenen Jahr zeigten sich immerhin 13 Prozent der über 18-Jährigen offen für Insektenkonsum, fast so viele wie für Laborfleisch (14 Prozent).
Noch dominieren Klein- und Kleinstunternehmen den Markt, der häufigste Vertriebsweg ist die eigene Website. Jetzt aber steigt in Deutschland erstmals ein großer etablierter Spieler in das Geschäft ein: der Fleischverarbeiter Kupfer aus Heilsbronn bei Nürnberg, Jahresumsatz rund 225 Millionen Euro. „Die derzeitigen gesellschaftlichen Problemstellungen wie CO2, Wasserverbrauch, Klima, effiziente Nutzung von landwirtschaftlichen Anbauflächen sprechen alle für den Konsum von Insekten“, sagt Vorstand Maximilian Kupfer. „Wir sehen uns als Vorreiter.“
Burger aus Buffalo-Würmern: mit neuer Rezeptur und preislich angepasst
Die ersten Insektenprodukte von Kupfer sollen schon nächstes Jahr auf den Markt kommen, unter der Marke Bugfoundation. So hieß das von Kupfer Ende 2021 übernommene Osnabrücker Start-up, das mit Burger-Patties auf der Basis von Buffalo-Würmern experimentierte. Die Innovation schaffte es in Rewe- und Tegut-Filialen, auch die Kette Hans im Glück servierte die „Tiny Champions“. Nach dem ersten Neugier-Effekt jedoch ließ die Nachfrage schnell nach: Die Burger waren teuer und enthielten viel Soja, was gerade umweltbewusste Verbraucher*innen störte. Im zweiten Anlauf will es Kupfer besser machen: Die Rezepturen würden überarbeitet, „um mit einem neuen und preislich wettkampffähigen Konzept auf den Markt zu kommen“. Begleitet werden soll der Launch von Aktionen in Handel und Gastronomie. „Die Erwartung für eine aktuell noch kleine, aber stetig wachsende Beliebtheit – und somit einen festen Platz in LEH und Gastro – ist definitiv vorhanden“, so der Kupfer-Vorstand.
Die derzeitigen gesellschaftlichen Problemstellungen sprechen alle für den Konsum von Insekten.
Maximilian Kupfer, Vorstand Kupfer
Wie kann es gelingen, den Nischenmarkt massentauglich zu machen? Aus Ernährungs- und ökologischer Sicht hat der Verzehr von Gliederfüßlern viele Vorteile: Sie sind ballast-, vitamin- und mineralstoffreich, enthalten bis zu 70 Prozent Protein, ihr CO2-Fußabdruck ist Studien zufolge bis zu hundertmal kleiner als der von Rindfleisch – auch weil ein viel größerer Anteil der Tiere verwertet werden kann. Wohlschmeckend sind sie auch, jedenfalls nach Ansicht von rund zwei Milliarden Menschen weltweit, auf deren Speiseplan die Krabbeltiere ganz selbstverständlich stehen.
Insektenfood ist eine Herausforderung fürs Marketing
In Deutschland hingegen ekeln sich die meisten bei der Vorstellung, Grillen oder Mehlwürmer zu verspeisen. „Das Dschungelcamp hat es nicht besser gemacht“, sagt Ariane Bieg, Geschäftsführerin der Hamburger Agentur Brand Upgrade, die auf Foodmarketing spezialisiert ist. So manches Start-up hat den Ekelfaktor womöglich eher noch verstärkt. Wicked Cricket aus München etwa vermarktet Delikatessen wie Heimchen mit Zimt und Zucker, geröstete Mehlwürmer und Wanderheuschrecken à la Gung. In den 15-Gramm-Tütchen zum stolzen Preis von 4,90 Euro stecken die Tiere in ihrer ganzen Pracht, „nur die Beine verarbeiten wir nicht“, sagt Wicked-Cricket-Manager Michael Günter. Von den Käufern, meist 25- bis 35-jährige Männer, werde der Verzehr „häufig als Mutprobe angesehen“. Entsprechend mäßig ist der Jahresumsatz, im niedrigen vierstelligen Bereich. Von der Idee, die Insekten weniger provokant zu präsentieren, hält Günter trotzdem nicht viel: „Warum sollten wir unsere Überzeugung vertuschen?“
Expertin Bieg allerdings findet: „Eine Mutprobe ist die völlig falsche Platzierung.“ Sie rät dazu, die Herkunft des Produkts „eher subtil in die Kommunikation einzubinden“. Bloß keine Bilder von Insekten zeigen, auf Argumente setzen wie den Mehrwert für die Gesundheit und den Beitrag zum Klimaschutz, beim Marketing Multiplikator*innen einbinden, die Vegetarier und Flexitarier ansprechen, und mit Verkostungen von der Qualität der Kreation überzeugen. Wichtig: Das Produkt muss schmecken, „sonst kauft es keiner“.
So gesehen hat Lara Schuhwerk mit Beneto viel richtig gemacht. Abbildungen von Heimchen sucht man auf ihrer Website vergebens, das Logo spielt mit einem Schmetterlingsdekor. Eine hochwertige Aufmachung und der Schriftzug „High Protein Pasta“ positionieren das Produkt im Healthfood-Segment, durch die Verpackung mit Sichtfenster sehen Verbraucher*innen: Da sind wirklich Nudeln drin. Um den Rohstoff zu optimieren, baut Schuhwerk unter der Marke Beneto Farm ihre eigene Heimchen-Zucht auf. Denn es ist ja so: Wie die Tiere gehalten, gefüttert und getrocknet werden, beeinflusst Geschmack, Farbe und Textur. Weil Grillen derzeit vor allem für Tierfutter gezüchtet werden, sieht Schuhwerk da einiges Potenzial. Zumal sie das Sortiment langfristig in Richtung Patties und Pulled Pork ausbauen will.
Ein Problem sind, solange die Skalierung fehlt, die Kosten. Schuhwerk hat es binnen drei Jahren immerhin geschafft, den Preis für ein 200-Gramm-Nudelpaket von 9,50 auf 3,95 Euro zu drücken. Das ist noch immer deutlich mehr als ein konventionelles Konkurrenzprodukt, auch wenn Gemüse als Beilage reicht. Ernährungsexperte Schweigert berichtet indes, dass Kapitalgeber*innen in Anlagen investieren, die pro Tag über eine Tonne Insekten produzieren könnten. „Dann würde auch der Preis stimmen.“
Umweltfeinde wie invasive Krebse einfach aufessen: Auch das ist ein Geschäftsmodell
Auch wenn die Zeiten für Innovatoren nicht gerade einfach sind – der Wandel der Essgewohnheiten wird weitergehen. Das zeigt auch das Start-up Holycrab der Berliner Transformationsexpert*innen und Umweltaktivist*innen Jule und Lukas Bosch. 2018 hatten sie die Idee, sich rasch vermehrende invasive Flusskrebse aus Spree und Havel zu fischen, Motto „If you can’t beat them, eat them“. Die Vermarktung läuft über einen Großhändler, auch eine Krabbenessenz gibt es. Die Öko-Logik dahinter ist bestechend: Der Konsum reduziert den Schaden, den Amerikanischer Sumpfkrebs und Kamberkrebs dem heimischen Ökosystem zufügen. „Je mehr ich davon esse, desto besser für die Umwelt“, sagt Lukas Bosch. „Das ist bei Fisch und Fleisch sonst gerade nicht so.“
Auch Krebse nicht jedermanns Sache, Ekel lösen sie meist jedoch nicht aus – der Verzehr ist kulturell gelernt. Das Weltrettungspotenzial indes ist begrenzt, etwa eine Tonne pro Saison holen die Hauptstadtfischer aus dem Wasser. Den Gründer*innen kommt es vor allem darauf an, mit Holycrab zu zeigen, was möglich ist: „Menschen können zu konstruktiven Akteur*innen im Ökosystem werden.“ Dieses Narrativ steht auch hinter ihrem nächsten Start-up: Es soll Fischarten wie Plötze oder Blei verarbeiten, die sich übermäßig vermehren und bislang als unerwünschter Beifang gelten. Der Markenname ist schon eingetragen: What the Fish.