Und was ist mit den Menschen im Marketing? Thurau zieht ein, wie er selber sagt, niederschmetterndes Fazit: Zwei Drittel der Vorstandsvorsitzenden der größten deutschen Unternehmen sind Naturwissenschaftler, Ingenieure oder Juristen. Nur jeder fünfte CEO habe zuvor im Marketing gearbeitet. Aber es kommt noch dicker: Die Marketingabteilung sei zu einer Unterabteilung degradiert worden, die gerade mal als Schnittstelle mit der Werbeagentur fungiert. Innovationen werden den Ingenieuren überlassen, Preissetzung den Controllern.
Dabei ist die Disziplin gefordert wie nie: Big Data, Business Intelligence, Attributionssysteme, Marketing Ressource Management aber auch Themen wie seit neuestem Content Marketing oder Social Media sind Fachgebiete, mit denen sich Marketingentscheider auseinandersetzen müssen; und sie sind vielfältig wie nie. Keine andere Unternehmensfunktion hat in den letzten Jahren wahrscheinlich so viel Wandel erlebt wie das Marketing, denn es hängt unmittelbar am Tropf der medialen und digitalen Revolution, die gerade vonstatten geht. Schon allein die sozialen Netzwerke versetzen das Marketing in die Lage, der oberste Chefaufseher zu sein, was Kundenbedürfnisse angeht.
Die Aufgabe des Marketings
Für das Marketing müssten daher die Aufgaben heißen: Innovationen vorantreiben, Entscheidungsmuster (von Kunden) erkennen, Kommunikationsketten (über die verschiedenen Kanäle) modellieren, Budgets intelligent allokieren. Das sind Aufgaben, die sowohl extern in Hinblick auf den Kunden also auch intern hinsichtlich der Prozesse hoch komplex sind. Und die Früchte der hoffentlich erfolgreichen Arbeit sind unmittelbar wachstums- und ertragsrelevant.
Insofern ist es umso unverständlicher, dass das Marketing im Unternehmenskonzert nicht wertgeschätzt wird. Wird der Wertbeitrag nicht erkannt, kann sich die Marketingabteilung nicht verkaufen, fehlen die Kompetenzen?
Auch beim Blick in die Wissenschaft, scheint es so zu sein, dass die Impulse in diesen Tagen häufig aus anderen Fachbereichen kommen: Neurowissenschaftler, Soziologen oder Psychologen haben in den letzten Jahren entscheidende Erkenntnisse liefern können und sind in die Marketingdomäne eingebrochen. Früher hießen die Leitsterne Drucker, Meffert oder Kotler, heute heißen sie beispielsweise Daniel Kahneman, Psychologe und Mathematiker, Amos Tversky, Pionier der kognitiven Psychologie oder Dan Ariely, Professor für Psychologie und Verhaltensökonomik an der Duke University in den USA. Sie haben insbesondere die Verhaltensökonomie (Behavioral Economics) nach vorne gebracht und mit dem Homo Oeconomicus (endlich) aufgeräumt. Das wäre eine schöne Aufgabe für die Marketingwissenschaft gewesen, denn dieser Forschungszweig setzt unmittelbar beim Menschen, also beim Kunden an. Aber sie ist hier eher verhalten gewesen, hat erfrischenden, inspirierenden Input in den letzten Jahren eher vermissen lassen.
Interdisziplinäre Ideen für das Marketing
Aber vielleicht ist ja der interdisziplinäre Ansatz die richtige Herangehensweise für das Marketing. Ähnlich wie der tschechische Ökonom Tomáš Sedlácek, weltbekannt durch sein Buch „Die Ökonomie von Gut und Böse“, der die Ökonomie wieder mit der Philosophie verheiraten will (Adam Smith war Moralphilosoph und Aufklärer), könnte es auch dem Marketing gut tun, aus einer gewissen gedanklichen Enge heraus in die Welt zu gehen und die interdisziplinären Ideen zu nutzen. Vielleicht müsste das Marketing sogar interdisziplinär weitergedacht werden und sollte sich andere Bereiche zu eigen machen, wie es in Ansätzen schon bei den Neurowissenschaften passiert ist. Es stecken auf jeden Fall noch viele Chancen in der Disziplin, denn die kommenden Aufgaben sind immens und der damit verbundene Kompetenzaufbau ist riesig. Das Marketing kann wieder ins Zentrum des Unternehmens rücken. Dann wären Analysen wie Thorsten Hennig-Thurau sie aktuell machen muss Geschichte.