„Im Recruiting ist es wie beim Dating“ 

Gero Hesse, CEO des Employer-Branding-Spezialisten Embrace, erklärt, warum sich 80 Prozent der Jobsuchenden heute nicht mehr für eine Arbeitgebermarke entscheiden und wie man im Bewerbungsprozess mit Talenten umgehen sollte.
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Gero Hesse ist Geschäftsführer des Employer-Branding-Spezialisten Embrace. (© Embrace)

Herr Hesse, mal ganz direkt gefragt: Wie sieht die Zukunft des Employer Branding aus? 

Ehrlicherweise würde ich gar nicht mehr von Employer Branding sprechen. Wir alle rutschen gerade mehr und mehr in Richtung Opportunity Branding oder auch Job Marketing. Das ist die Zukunft. 

Wie schön: Gleich zwei neue Buzzwords. Was heißt das? 

Schaut man sich die Trends im „People & Culture“-Management an, ist Employer Branding fast schon antiquiert. Employer Branding, also die klassische Arbeit an einer Arbeitgebermarke, kann man heute nicht mehr losgelöst von Recruiting und Retention betrachten. Alle drei Disziplinen müssen gut orchestriert ineinandergreifen. Technologisierung und Digitalisierung führen dazu, dass sich die Berufsbilder massiv verändern und es bei Recruiting, Retention und auch Personalentwicklung immer mehr um Skills und Kompetenzen gehen muss, als um konkrete Stellenbeschreibungen. Und: Je mehr wir uns von einem Arbeitgebermarkt zu einem Arbeitnehmermarkt entwickeln, desto mehr müssen sich die HR-Prozesse anpassen und technologisieren. 

Und das alles macht Employer Branding antiquiert? 

Das alles führt dazu, dass sich die Rollen von Sender und Empfänger vertauschen. Nicht mehr das Unternehmen sendet seine Botschaften an die Individuen. Sondern die Individuen senden an die Unternehmen, was sie machen wollen, was sie dafür haben wollen und wo sie dies tun wollen. Talenten geht es immer weniger darum, bei einem ganz bestimmten Arbeitgeber, bei einer ganz bestimmten Employer Brand zu arbeiten. Die meisten wollen in erster Linie einen individuellen Job mit individuellem Skills Mix, in einem für sie individuell gepackten Jobpaket. Das ist ein echter Paradigmenwechsel, dessen Tragweite bislang nur die wenigsten Arbeitgeber wirklich verstanden haben. 


Zur Person: 

Seit 2011 ist Gero Hesse Geschäftsführer des Employer-Branding-Spezialisten Embrace (bis zur Herauslösung aus dem Kommunikationsunternehmen Territory im Mai 2023 Embrace Territory). Mit 240 Mitarbeitenden umfasst Embrace unter anderem ein Agenturteam für Employer-Branding- und Recruiting-Kampagnen, das jährlich stattfindende #RC-Festival sowie die Recruiting-Plattformen Ausbildung.de, meinPraktikum.de und Trainee.de. Unter dem Namen Saatkorn veröffentlicht Gero Hesse zudem einen Blog und Podcast rund um Themen aus der Arbeitswelt. 


Wie hoch ist Ihrer Einschätzung nach der Anteil jener Talente, denen die Arbeitgebermarke bei einer Jobentscheidung völlig egal ist? 

Ich würde sagen: 80 Prozent entscheiden sich primär nicht für eine Arbeitgebermarke, sondern für einen Job, der aus eben genannten Gründen am besten zu ihnen passt. 

Ganz schön mutig, dass ausgerechnet Sie das sagen. Schließlich lebt auch Embrace zu einem guten Stück davon, ihren Kunden Employer-Branding-Dienstleistungen zu verkaufen. 

Employer Branding ist ja nicht weg und es ist auch nicht egal. Es ist nur längst Mainstream, und seine Mechanismen ändern sich gerade gewaltig. Außerdem haben Sie mich ja nach der Zukunft des Employer Branding gefragt. Und da sage ich ganz klar: Man muss sich frühzeitig, also jetzt, an den Wandel anpassen und statt der eigenen Arbeitgebermarke viel mehr die individuellen Möglichkeiten, die man Talenten bieten kann, in den Fokus stellen. Das meine ich mit Opportunity Branding. 

Unser Eindruck: Viele Arbeitgeber sind noch nicht einmal im Employer-Branding-Mainstream, wie Sie es nennen, angekommen. 

Wir haben tolle Arbeitgebermarken von großen, starken Unternehmen. Da macht Employer Branding bislang Sinn. Aber der Großteil des “War for talents” findet doch im Mittelstand statt. Und wer kennt schon alle diese KMUs und Hidden Champions? KMUs müssen sich entscheiden, ob sie a) ein großes Budget in ihr Employer Branding investieren wollen oder ob sie b) ihre womöglich sehr spitzen Zielgruppen lieber gezielt über individuelle, digitale Kanäle ansprechen wollen. 

Wir nehmen an: Sie plädieren für Variante b)? 

Natürlich. Für die meisten KMU halte ich aufwendige Employer-Branding-Kampagnen für den falschen Weg. Da gibt es weitaus effizientere Methoden. Wir fragen unsere Kunden oft: Braucht Ihr überhaupt eine Kampagne? Meist ist die bessere Lösung, die eigene Karrierewebsite so umzubauen, dass sie richtig gut performt und maximale Conversion mit jenen Zielgruppen hinbekommt, die die besten Skills mitbringen. Es geht im Grunde darum, einen E-Commerce-Shop für Jobs zu bauen. Eine Employer-Kampagne kann dann nur noch dazu dienen, möglichst viel Traffic auf diese Seite zu bekommen. 

Auch Embrace setzt auf den Wachstumsmarkt HR Tech. Seit die Agentur aus dem ebenfalls zu Bertelsmann gehörenden Kommunikationsunternehmen Territory herausgelöst wurde, gehört sie zu Bertelsmann Investments und der will mit Investitionen und Akquisitionen in HR-Technologien wachsen. 

Wir werden diesen Bereich gezielt ausbauen und wollen ein HR-Ökosystem mit den relevantesten Playern aus dem HR Tech aufsetzen. HR Tech spielt eine fundamentale Rolle, wir erleben hier gerade eine regelrechte Explosion. Mitte 2022 haben wir für eine erste Marktübersicht allein 289 HR-Tech-Start-ups in DACH für die Themen Recruiting und Retention gezählt. Im April 2023 waren es schon 406 Unternehmen. Der Markt ist da. Der größte Budgetzuwachs im HR-Bereich fließt nicht in Marketing oder Branding, sondern in Recruiting und Retention. Also in das Finden und Binden der Mitarbeitenden. 

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Ein starkes Team: Für eine gute Performance müssen Employer Branding, Recruiting und Retention orchestriert ineinander greifen. (© Unsplash)

„Retention ist das neue Recruiting“ hört man gerade überall. Also alle Kraft in die internen Prozesse? 

Vor allem: alle Kraft in die Unternehmenskultur. Retention geht ja weit über Employer Branding hinaus und greift tief in die Unternehmenskultur hinein. Wenn eine Arbeitgebermarke nicht wirklich hält, was sie in Marketing und Kommunikation verspricht, hat sie heute ein riesengroßes Problem. 

Lassen Sie uns trotzdem noch kurz über klassische Employer-Branding-Kampagnen sprechen. Warum sehen die meisten eigentlich alle gleich langweilig aus? 

Das sehe ich anders und da tut sich gerade schon eine ganze Menge. 

Alle zeigen die eigenen Mitarbeitenden mit mehr oder weniger originellen Zitaten. 

Vor ein paar Jahren hatten alle noch Stockfotos. Es ist also schonmal ein Schritt in die richtige Richtung. Die viel beschworene Authentizität erfährt im Employer Branding total an Bedeutung. Das unterscheidet Arbeitgebermarken ganz erheblich von Produktmarken. 

Aber eben kaum untereinander. 

Die meisten CEO und Top Leads denken immer noch, dass sie ihr Unternehmen nach außen möglichst perfekt darstellen müssen. Aber das ist Unsinn. Die Talente wissen: Niemand ist perfekt, auch kein Arbeitgeber. Viel wichtiger ist den Leuten heute, dass Arbeitgebende ehrlich kommunizieren und auch ihre Schwächen offen benennen. Die Leute wollen wissen, was sie wirklich erwartet. 

Warum sieht man solche Kampagnen dann kaum? 

Der Paradigmenwechsel vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt wird noch einige Zeit brauchen. Auf C-Level glauben viele nach wie vor: Zu uns will doch jeder. Top-Entscheider müssen akzeptieren, dass sie ein Problem haben. Und sie müssen ihr Verhalten ändern. Nach fünf Jahrzehnten, in denen der Arbeitsmarkt andersherum verlief, ist das aber nicht einfach. Sehr viele Unternehmen tun sich schwer damit, in einen tatsächlichen Dialog mit den Leuten zu gehen. Im Grunde ist das wie beim Dating: Man sollte die Umworbenen nicht vollquatschen und damit langweilen, was man an sich selbst so toll findet. Man sollte den Umworbenen zuhören und sich ernsthaft für sie interessieren. 

Welche Kampagne, die nicht von Embrace kommt, macht das gerade besonders gut? 

Meine Lieblingskampagne ist ganz klar der neue Employer-Branding-Auftritt der Deutschen Bahn „Was ist Dir wichtig?“. Die haben die neue Mechanik und den Wechsel vom Sender zum Empfänger perfekt verstanden. Die machen es genauso, wie man es machen muss. 

ist seit mehr als 20 Jahren Journalistin, spezialisiert auf Marketing, Medien, New Work und Diversity. Sie war stellvertretende Chefredakteurin bei “Horizont”, schreibt seit 2014 als freie Autorin für diverse Wirtschafts- und Fachmedien und liebt es, als Dozentin für Fachjournalismus und Kommunikation junge Menschen für die Branche zu begeistern. Privat muss es bei ihr sportlich zugehen – am besten beim Windsurfen oder Snowboarden.