Nach zwei Jahrzehnten immer neuer Verbote, Restriktionen und Vorschriften müsste man allmählich gelernt haben, wie Brüssels Mühlen mahlen. Und sich eine geeignete Strategie ausgedacht haben, um damit umzugehen. Das Stichwort muss heißen: Pro-aktiv!! Was ist damit gemeint? Zunächst sollte man sich die Mühe machen, die – zugegeben falsche – Denkungsart und Mentalität der Brüsseler Beamten zu verstehen. Und als deren selbst formulierten Auftrag zu akzeptieren. Sie sehen sich als die Anwälte der Bürger Europas, die den bösen Manipulateuren der Industrie und des Handels ausgesetzt sind und von ihnen vermeintlich ungeschützt verführt werden.
Brüssel leitet daraus seine moralische und funktionale Verpflichtung ab, den europäischen Bürger vor drohendem Missbrauch zu schützen. Man baut – psychologisch sehr geschickt – auf dem schlummernden Verdacht der Menschen auf, dass eine mächtige Industrie- und Konsumgesellschaft immer versucht, den armen, wehrlosen Bürger unmerklich zu dominieren.
Die Strategie des pro-aktiven Handelns
Die Brüsseler Behörde also als Retter schutzloser, alleingelassener Bürger. In einem Dschungel raffiniert verführender Kommunikation. Kein schlechter strategischer Platz, aber für uns alle eben eine Situation, die uns in die Defensive drängt. Sie zwingt uns zur Verteidigung, obwohl es objektiv nur weniges zu verteidigen gibt. Schon die Wahrnehmung dieser Imbalance zeigt auf, dass die Wirtschaft und besonders das Marketing schleunigst die strategische Ausgangsposition verändern muss. Statt sich ständig auf der Anklagebank wiederzufinden, gilt es pro-aktiv zu werden und schon im Vorfeld aller Diskussionen – den Dialog aktiv zu suchen. Ja geradezu selbst zu inszenieren, um damit die Richtung von Anfang an mit beeinflussen zu können.
Es kann ja wohl nicht sein, dass Brüssel ernsthaft, aber einsam in seinen Amtsstuben darüber nachdenkt, Autowerbung nur noch ohne fahrende Autos zu erlauben. Oder Kinder noch nicht einmal als Teil der Familie werblich auftreten zu lassen. Damit das nicht so abstrakt bleibt, soll hier am Beispiel der aktuellen Alkohol-Thematik aufgezeigt werden, wie eine kluge, pro-aktive Strategie der Hersteller hätte aussehen können:
Sie erinnern sich alle an die Alcopops – und das große Geschrei, als nach allzu großem Markterfolg diese low alcohol-Kategorie von Brüssel zu einer unzulässigen und gesellschaftsfeindlichen Droge uminterpretiert wurde. Stellen Sie sich vor: Einige Jahre bevor Alcopops erfunden wurden, hätte der Industrieverband sich mit Brüssel zusammen gesetzt und gemeinsam eine Lösung gesucht, um den hochprozentigen Alkoholgenuss Jugendlicher wirksam zu senken. Das Ergebnis wäre – nicht sehr überraschend – ein Produkt in der niedrig prozentigen Alkohol-Kategorie geworden. Wie gesagt, pro-aktiv, kooperativ und integrativ. Hand in Hand zwischen Industrie und Brüssel sorgfältig erarbeitet und abgestimmt. Aber wie gesagt, so wurde es nicht gemacht. Und damit eine Chance versäumt, ein sozialverträgliches Ergebnis und damit eine Win-Win-Situation für alle Seiten zu erreichen.
Und um rasch wieder vom Abstrakten zum Konkreten zu kommen: Der aktuelle Strategie-Wechsel von McDonald’s, der die aufkeimende Diskussion um Übergewichtigkeit abfängt, ist ein gelungenes Beispiel: Prompt und konsequent hat McDonald’s aus der reinen Hamburger-Kette eine Öffnung in ein breites Sortiment gesunder Ernährung vom Salat über Fischspeisen bis zum McCafé von heute auf morgen im Markt platziert. Und damit mögliche Brüsseler Aktivitäten schon im Entstehen abgefangen. Idealtypisch.
Jetzt aber zurück zum Thema pro-aktiv:
Brüssel greift bestimmte Kategorien und Märkte nicht willkürlich heraus und entwickelt neue Verbote dafür. Brüssel hat eine sorgfältig, strategisch entwickelte Liste von Themen, an denen systematisch gearbeitet wird. Man nennt das den „Domino-Effekt“, der von Produktkategorie zu Produktkategorie die Reihenfolge bestimmt, nach der die Brüsseler Behörde arbeitet. Die Dringlichkeit richtet sich nach Zeitgeist-Themen oder aktuellen Anlässen. Brüssel hat sich auf alle Domino-Steine bereits vorbereitet. Übrigens: mit exzellenten Fachleuten, klugen Köpfen, geschickten Statistiken und populistischen Untersuchungen.
Wichtig wäre nun, dass alle Verbände und Interessenvertretungen sich schon heute – auch ohne äußeren Anlass – präventiv in Gesprächen mit Brüssel einbringen. Strategische Zielsetzung ist dabei eine ausgewogene Balance zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und wirtschaftlichen Interessen zu finden.
Mehr Nähe zu den Entscheidern in Brüssel
Es gibt ein ehernes Gesetz im Leben: Egal, wie unterschiedlicher Meinung man ist, je anonymer man aufeinander einschlägt, um so aggressiver, aber auch ergebnisloser spielt sich das ab. Und die Fronten verhärten sich nur. Je näher man – am liebsten persönlich – die Themen Auge in Auge behandelt, im direkten Gespräch, im unmittelbaren Gedankenaustausch und in ausgewogener Tonart, umso moderater wird das Ergebnis. Nähe bringt nicht nur Zeitgewinn und Insights über die Motive der Brüsseler Experten, es erhöht die Chance zu konstruktiven, praktikablen Kompromissen zu kommen. Auch, wenn es unendliche Geduld abverlangt. Die Balance, die eine Ko-Existenz auf hohem Niveau gewährt, ist das Ziel. Aus dem heutigen „Mensch-ärgere-Dich-nicht“ muss eine intelligente Schachpartie werden. Ja, das kostet extra Mühe und ja, es bedarf creativer Ideen, die beiden Seiten gestatten, ihren Auftrag zu erfüllen und dabei ihr Gesicht zu wahren. An die Stelle nachträglicher gegenseitiger Beschimpfungen und Vorwürfe tritt konstruktives Ringen, um die relevanten Themen pro-aktiv und ohne Zeitnot in Angriff zu nehmen. Intelligenz und diplomatisches Geschick sind die Treiber. Der gemeinsame Nenner ist „soziale Kompetenz“, der sich beide Seiten verpflichtet fühlen. Nach dem Motto: We did not create the problem, but we want to be part of the solution.
Marketing lebt doch sonst immer von pro-aktivem Denken und sensiblem Handeln. Warum soll das ausgerechnet in Sachen Brüssel anders sein?
Über den Autor: Bernd M. Michael ist Inhaber des BMM Büro für Markenarchitektur