Auf den ersten Blick verraten nur die Segelschuhe und die weißen Haare, dass Alon Carmel aus einer anderen Welt kommt als seine Mitarbeiter*innen; ja, aus einem Zeitalter, in dem man noch keinen Schimmer hatte, wie dieses Internet unser Leben verändern wird. Überhaupt wirkt der 66-Jährige mit der hippen Hornbrille eher wie ein Kreativer als ein Serienunternehmer.
Die Schuhe zieht er jedoch erst zum Gespräch an. Zuvor sitzt er barfuß in einer der kleinen Glasboxen des Co-Working-Space, in dem von den pastellfarbenen Winkekatzen in den Regalen zum Mountainbike im Flur alles ruft: Wir sind eine dieser extrem innovativen Tel Aviver Ideen-Schmieden!
Carmel mag kein Native Digital sein, aber in den Weiten des Internets kennt er sich aus. Immerhin hat er bereits 1997 eine der bekanntesten Online-Dating-Plattformen gegründet – zumindest in der jüdischen Welt. Und das zu einer Zeit, als viele noch nicht mal eine E-Mail-Adresse hatten.
Der Seriengründer Alon Carmel
Aber darum soll es erstmal nicht gehen. Seine Anteile an Jdate hat er längst verkauft. Ebenso wie die von einem Dutzend anderer Unternehmen. Darunter auch eine VHS-Fabrik. Video-Kassetten… Damals war das die Zukunft. Verrückt, wenn man bedenkt, was sich seitdem getan hat.
Vielleicht hat ihn die Idee deswegen gleich gepackt. Es wurde mal wieder eine neue Ära eingeläutet: Das Internet wanderte in die Hosentasche. Plötzlich wurde gescrollt, bis die Daumen glühten. Nur auf Werbefilme wollte keiner klicken. „Niemand mag Werbung“, sagt Carmel: „Aber alle wollen kostenlosen Content.“ Das sei nun mal der große Konflikt des Internets.
Videos spielten damals noch nicht automatisch ab, wenn man auf dem Smartphone eine Seite öffnete – und genau das wollte Carmel mit seinem Team ändern.
Die Neu-Erfindung des Trickfilms
Die Lösung war schnell gefunden, sobald die Herausforderung feststand: Der Player von Aniview zerlegt das mp4 in jpgs, denn diese kann der Browser hintereinander abspielen. „Wir haben nach 100 Jahren den Trickfilm nochmal erfunden“, sagt Carmel.
Eine Schweizer Firma zeigte sich gleich begeistert. Und obwohl die Konkurrenz schnell nachzog und die in Israel und den USA patentierte Idee kopierte, machte das 2013 gegründete Start-up sofort Profit. „Wir mussten nie Investoren suchen“, sagt Carmel: „wir sind eine echte Bootstrap-Company.“
Ein wenig „Kismet“ spielte auch noch mit hinein. Denn kaum hatten sich Carmel und sein Mitgründer und CTO Roy Cohen entschieden, dass ein Videoplayer nicht genug sei, wurde der Ad Server, den sie bis dahin benutzt hatten, an Facebook verkauft.
Während Aniview bereits an einem eigenen Server baute, verwarf Facebook den alten Server. Der Einfachheit halber wechselten nun alle von Aniviews bestehenden Kunden auf den hauseigenen Server.
Ein Ökosystem für die Verwaltung von Anzeigen
„Das war der eigentliche Anfang von Aniview“, sagt Carmel. So ein Ad Server, der hinter den Kulissen die Anzeigen verwaltet, bildet das Rückgrat für alles, was mit Monetarisierung im Netz zu tun hat. Damit lag auch die Idee nicht mehr fern, weitere Komponenten anzubieten, ja ein ganzes Ökosystem. Inzwischen verfügen Aniview-Kunden über einen Baukasten sowohl für CTV als auch Internetfernsehen: Über eine eigene CMS-Plattform kann man Videos und Werbesendungen hinzufügen und managen. Es gibt ein Software Development Kit für Apps sowie ein eigenes SSAI für Werbeeinschaltungen – neben der Technologie bietet Aniview seinen Kund*innen aber auch noch einen Marketplace, auf dem Herausgeber*innen und Werber*innen zusammenkommen.
Dass alle Produkte aus einem Haus stammen, garantiere Transparenz und reduziere die Kosten, sowohl für Nischen-Kund*innen als auch die großen Medienhäuser, erklärt Carmel: „Mit unseren Modulen füllen wir die Lücken anderer Plattformen, sie lassen sich leicht in bereits existierende Systeme integrieren.“ Man kann sie im Paket oder einzeln verwenden. Kurz: Die große Stärke von Aniview sei Flexibilität.
Das ist vielleicht der Satz, der auch Alon Carmel am besten beschreibt.
Israel, die Start-up-Nation
Es gibt viele Erklärungen wie Israel zur Start-up-Nation wurde: Der Pioniergeist der ersten Wüstensiedler; die Forschungseinheiten des Militärs als Sprungbrett; oder die Tatsache, dass Familie im kleinen Land über alles geht – und jeder irgendwie Familie ist.
Für ihn war es schlicht Notwendigkeit, sagt Carmel, und erzählt dann doch, was er nicht erzählen wollte, weil es ihm zu dick aufgetragen vorkommt. Seine ersten Schekel verdiente er nämlich schon im Alter von fünf Jahren. „Ich würde es keine harte Kindheit nennen, aber es war sehr abenteuerlich.“ Aufgewachsen ist er in der Hafenstadt Haifa. Mal verkaufte er Blumen auf den Straßen, mal Zigaretten oder Eiscreme. Später bummelte er durchs ganze Land, auf der Suche nach Jobs. Ab und an leistete er sich einen Schulbesuch. „Niemand kaufte mir Geschenke, aber ich wurde sehr gut darin, mir selbst Geschenke zu machen.“
Zuvor galt es jedoch noch, den Militärdienst abzuleisten. Ausgerechnet an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, läuteten die Sirenen. „Wir waren Kinder“, sagt Carmel: „Für uns war das erstmal ein Abenteuer.“ Für ihn endete der Krieg mit einer Verwundung im „Tal der Tränen“, wie die Front an der Grenze zu Syrien später genannt wurde.
Ein Vierteljahrhundert in den USA
Dass Carmel heute so lässig davon erzählen kann, was damals eine ganze Generation traumatisierte, mag daran liegen, dass er Israel für 25 Jahre hinter sich ließ. Erst lockte ihn ein Kumpel nach England, wo er auf einer Werft arbeitete – und schließlich führte ihn eine Liebesgeschichte nach Kalifornien. Das Tellerwaschen ließ Carmel aus, stattdessen fuchste er sich ins Immobiliengeschäft ein. Und dort, in der jüdischen Community von L.A., entdeckte er auch das Internet.
Carmel saß mit seinem Geschäftsfreund Joe Shapiro in einem israelischen Restaurant, als dieser einen Stapel Post öffnete. Darunter ein Schreiben der Agentur „Great Expectations“. Der frisch geschiedene Shapiro erzählte dem ebenfalls geschiedenen Carmel von dieser Dating-Agentur, für die er im Monat ein paar Tausend Dollar hinblätterte. Dafür wurden die Klient*innen in einer Art Hollywood-Studio gestylt und gefilmt. Ein luxuriöser Service, aber 1995 noch sehr analog: Die Video-Clips wurden dem anderen Geschlecht gezeigt, und dann wurde ein Brief verschickt.
Als Shapiro mit der Idee aufkam, den Matchmaking-Prozess ins Netz zu verlegen, habe er erstmal gefragt: „Was ist denn dieses Internet?“
Jdate: Matchmaking für jüdische Singles
Er fand die Idee auch noch brillant, als sie feststellten, dass es tatsächlich schon gut 3.000 Dating-Sites gab. „Dann machen wir eben eine Seite für jüdische Singles“, sagte Carmel: „Wenigstens haben wir dann eine gute Auswahl für uns selbst.“
Mit einem Freund bastelten sie die erste Website. Doch die Kunde von dieser neuen Art des jüdischen Schidduch machte vor allem mündlich die Runde. „Welchen Computer muss ich denn dafür kaufen?“, fragten manche am Telefon. Weil noch kaum jemand einen Scanner hatte, ließ Carmel seinen 10-jährigen Sohn die eingesendeten Fotos zurechtschneiden.
Aber es gab noch eine Hürde. „Dating“, sagt Carmel: „das klang den Investoren so anrüchig wie Porno.“ Dass das Startkapital für das größte jüdische Single-Portal schließlich von einem deutschen Banker kam, findet Carmel immer noch eine schöne Geschichte: „Er sagte sofort zu. Da spielte wohl das deutsche Schuldgefühl hinein.“
Eine zweite große Liebe fand Carmel selbst nicht auf Jdate. Sondern erst, als er wieder nach Israel zurückgekehrt war. „Amerika ist nett und bequem, aber so richtig zu Hause fühlte ich mich nie.“ In Israel sei einfach alles wärmer – selbst das Geschäft.
Tatsächlich wirkt das Aniview-Team wie Familie. Die Kund*innen nennt man mit Bedacht „Partner“. Die Marketingchefin sagt: „Alon ist ein Leutemagnet, er zieht die richtigen an.“ Carmel wiederum bezeichnet sie als seine Ziehtochter, seinem Mitgründer Roy Cohen strubbelt er im Vorbeigehen über die Igel-Haare.
Dieser hat übrigens letztens in einem Interview sehr detailliert beschrieben, wie es aussehen könnte, wenn sich Netflix mit Aniview verpartnern würde. Rein hypothetisch natürlich.