Health Hushing: Die Angst vor Diskriminierung bei der Bewerbung 

Inklusion gehört zum Standard in der Außendarstellung von Unternehmen. Doch viele Menschen verschweigen ihre Krankengeschichte im Bewerbungsprozess – aus Angst, benachteiligt zu werden. Dieses Phänomen heißt Health Hushing.
Health Hushing und Diskriminierung: Wie dagegen vorgehen?
Die Erfahrung, aufgrund einer Erkrankung oder Behinderung diskriminiert zu werden, kennen viele Betroffenen. (© Unsplash)

Lisa sitzt nervös im Konferenzraum und wartet auf ihr drittes Bewerbungsgespräch in den letzten Monaten. Die 35-Jährige, die anonym bleiben möchte, ist hoch qualifiziert und voller Tatendrang. Vor vier Jahren veränderte eine Brustkrebsdiagnose ihr Leben. Sie kämpfte und gilt mittlerweile als krebsfrei. Doch während die physischen Narben verheilt sind, spürt Lisa, dass die Schatten der Krankheit immer noch in ihre Gegenwart reichen. 

In den letzten Gesprächen fühlte sie, wie sich die Atmosphäre veränderte, sobald sie ihre Krankheitsgeschichte erwähnte. Statt auf ihre Fähigkeiten zu blicken, schien die Frage im Raum zu stehen: Wie belastbar ist sie wirklich? „Jedes Mal, wenn ich von meiner Krebserkrankung sprach, änderte sich die Stimmung“, sagt sie. Den Status als Behinderte lehnt sie ab. Sie will offen mit ihrer Vergangenheit umgehen, schöpft sogar Kraft daraus. Doch in der Arbeitswelt ist dies schwer: „Ich habe nach den Gesprächen nicht einmal Absagen erhalten.“ Seitdem vermeidet sie das Thema Krebs in der Bewerbungsphase. 

Lisa ist kein Einzelfall. Viele Bewerber*innen mit ähnlichen Geschichten kennen das Gefühl, aufgrund ihrer Gesundheit im Bewerbungsprozess benachteiligt zu werden. Zwar genießen sie rechtlichen Schutz, den das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) bietet. Doch die Realität sieht anders aus: Health Hushing – das Verschweigen von gesundheitlichen Problemen oder vergangenen Krankheiten – wird für viele notwendig, um nicht im Bewerbungsprozess aussortiert zu werden. 

Diversität auf dem Papier, aber nicht in der Praxis 

Unternehmen stellen sich in ihrer Außenkommunikation gerne als Vorreiter für Diversität und Inklusion dar. Sie betonen, wie wichtig ihnen eine Unternehmenskultur ist, in der alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, Sexualität, ihrem Geschlecht oder ihrer Gesundheit, willkommen sind. Doch bei der Personalauswahl zeigt sich oft ein anderes Bild

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Die Berliner Fachanwältin für Arbeitsrecht Leonie Thum kennt das Phänomen von Diskriminierungen im Bewerbungsprozess. Credit: Delia Valeska.

Die Praxis sieht so aus: Menschen, die im Lebenslauf Lücken aufgrund von Krankheitsausfällen oder neurodivergente Eigenschaften wie ADHS oder Autismus haben, werden schnell als Risiko wahrgenommen. Auch Behinderungen zählen dazu. „Man spricht es nicht direkt an“, sagt eine Headhunterin anonym, „aber wir raten möglichen Kandidat*innen, nicht offen über Erkrankung oder Behinderungen zu sprechen.“ Manche Bewerber*innen erzählten nach erfolgreicher Einstellung ihrem neuen Arbeitgeber davon. „Doch viele trauen sich nicht. Ja, sie sind benachteiligt.“ 

Hier zeigt sich der Widerspruch: Nach außen hin Diversität zeigen, intern aber die Risiken scheuen. Das zwingt viele Bewerber*innen in die Defensive. Statt offen über ihre gesundheitliche Vergangenheit zu sprechen, entscheiden sie sich, ihre Krankengeschichte zu verschweigen. Das Phänomen des Ghostings, bei dem Bewerber*innen nach der Offenlegung sensibler Informationen plötzlich keine Rückmeldung mehr vom Unternehmen erhalten, verstärkt die Angst vor Diskriminierung. 

Rechtslage: Theoretischer Schutz, praktische Grauzonen 

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) soll Diskriminierung aufgrund von Behinderungen verbieten. Arbeitgeber dürfen in Bewerbungsgesprächen keine Fragen zur Gesundheit oder Krankengeschichte stellen, außer, wenn eine Einschränkung der Leistungsfähigkeit besteht, die für den Arbeitsplatz von Bedeutung ist. Allerdings bietet das AGG nur ein unzureichendes Schutzniveau. 

„Das Diskriminierungsverbot ist in diesem Bereich häufig sehr theoretisch, das Schutzniveau des AGG wird seit vielen Jahren und in fast allen Bereichen kritisiert“, sagt Leonie Thum. Als Rechtsanwältin für Arbeitsrecht in Berlin-Neukölln kennt sie die Nöte von Arbeitnehmer*innen. “Viele Menschen mit anerkannter Schwerbehinderung verschweigen diese oft im Bewerbungsverfahren – trotz eines Rechts auf Einladung – da sie Diskriminierung und die Ablehnung ihrer Bewerbung befürchten“, sagt sie. „In der Praxis erleben die Betroffenen, dass ihnen der Zugang zu Arbeit wegen ihrer Besonderheiten verwehrt wird und Arbeitgeber diese grundsätzlich als Risiko sehen.“ 

Gegen jede Art der Diskriminierung wegen jeglichen Krankheiten schützt das AGG nicht. „So dürfen Arbeitgeber in Deutschland beispielsweise auch direkt wegen Krankheit kündigen, wenn die Voraussetzungen vorliegen“, erklärt Thum.

Neurodiversität: Chancen oder Risiken? 

Menschen mit Behinderungen sind im Alltag nach wie vor häufig mit Diskriminierungen konfrontiert. Etwa ein Viertel aller Anfragen bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) betrifft Diskriminierungserfahrungen aufgrund von Behinderungen – mehr als in jedem anderen Bereich. In einer von der ADS in Auftrag gegebenen Umfrage hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa Menschen mit einer anerkannten Schwerbehinderung befragt, wo sie Benachteiligungen erleben. Jeder vierte Befragte gab an, im Berufsleben benachteiligt zu sein. 

Nicht nur körperliche Krankheiten, sondern auch Neurodiversität wird im Bewerbungsprozess häufig stigmatisiert. Menschen mit Autismus, ADHS oder Dyslexie sind oft hoch qualifizierte Bewerber*innen, die besondere Stärken und Fähigkeiten mitbringen. Doch viele neurodivergente Menschen fühlen sich gezwungen, ihre Eigenschaften im Bewerbungsgespräch zu verbergen. 

Ursula Schemm von Auticon, einem IT-Dienstleister, der auf Menschen im Autismus-Spektrum spezialisiert ist, erklärt, dass viele neurodivergente Menschen ihre Diagnose im Job verschweigen. „Unsere Untersuchungen zeigen, dass über ein Drittel der berufstätigen Autist*innen nie um Anpassungen ihrer Arbeitsumgebung gebeten haben, weil sie nicht über ihre Diagnose sprechen wollen. 56 Prozent gaben an, sich an ihrem Arbeitsplatz zu verstellen.“ Das sogenannte „Maskieren“, also das Verbergen autistischer Verhaltensweisen, sei extrem belastend und führe oft zu Burnout oder Depressionen, so Schemm. 

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Ursula Schemm ist seit über fünf Jahren für Marketing und Kommunikation bei Auticon Deutschland verantwortlich. Credit: Auticon

Auticon bietet Arbeitsplätze speziell für Autistinnen in der IT-Branche und bereitet sowohl die Unternehmen als auch die neurodivergenten Mitarbeiterinnen auf die Zusammenarbeit vor. „Wir sehen immer öfter, dass Unternehmen, nachdem sie positive Erfahrungen mit unseren Spezialisten gemacht haben, selbst neurodivergente Fachkräfte einstellen wollen“, berichtet Schemm. Diese Entwicklung zeigt Fortschritte, doch sie betont, dass viele Unternehmen noch Nachholbedarf haben. „Diversität muss von der gesamten Belegschaft gelebt werden, nicht nur auf Management-Ebene.“ Dafür seien Diversity-Trainings genauso notwendig, wie Sicherheitsschulungen. 

Die Herausforderungen für neurodivergente Menschen im Bewerbungsprozess sind weiterhin groß. Viele fallen durch das Raster herkömmlicher Verfahren, weil sie beispielsweise Lücken im Lebenslauf haben oder keinen formalen Abschluss vorweisen können. „In Bewerbungsgesprächen und Assessments sind sie oft benachteiligt, wenn es mehr um ‚Social Skills‘ geht oder die Umgebung zu reizintensiv ist“, erklärt Schemm. Sie fordert, dass Recruiter besser geschult werden, um neurodivergente Talente zu erkennen. „Es gibt eine fünfmal höhere Arbeitslosigkeit bei hoch qualifizierten Autist*innen, während gleichzeitig viele IT-Stellen unbesetzt sind“, sagt Schemm. 

Health Hushing und Diskriminierung überwinden – echte Inklusion schaffen 

Beispiele wie Auticon zeigen, wie Inklusion funktionieren kann: Neurodivergente Talente werden hier nicht nur akzeptiert, sondern gezielt gefördert. Unternehmen wie dieses beweisen, dass Diversität in der Arbeitswelt möglich ist – wenn die richtigen Strukturen geschaffen werden. Doch bis Menschen mit einer Krankheitsgeschichte oder Neurodivergenz wirklich flächendeckend integriert werden, ist es noch ein weiter Weg.  

Zwar bietet das AGG wichtige Schutzmechanismen, doch wie Rechtsanwältin Thum betont: „Die Menschen verschweigen ihre Krankheit oder Behinderung nicht, weil sie ihre Rechte nicht kennen, sondern weil ihre oberste Priorität ist, überhaupt eine Chance auf die Stelle zu bekommen.“ Der Wunsch nach fairer Teilhabe wird von der Angst überlagert, aufgrund von Vorurteilen oder unzureichender Aufklärung aussortiert zu werden. 

Um echte Inklusion zu schaffen, müssen Unternehmen weit über bloße Absichtserklärungen hinausgehen. Sie sollten Strukturen schaffen, die es den Menschen ermöglichen, offen mit ihren gesundheitlichen Besonderheiten umzugehen – ohne Angst vor Diskriminierung. Letztlich geht es darum, dass Unternehmen begreifen: Diversität ist nicht nur eine ethische Verpflichtung, sondern auch ein wirtschaftlicher Vorteil. 

(amx, Jahrgang 1989) ist seit Juli 2022 Redakteur bei der absatzwirtschaft. Er ist weder Native noch Immigrant, doch auf jeden Fall Digital. Der Wahlberliner mit einem Faible für Nischenthemen verfügt über ein breites Interessenspektrum, was sich bei ihm auch beruflich niederschlägt: So hat er bereits beim Playboy, in der Agentur C3 sowie beim Branchendienst Meedia gearbeitet.