Wenn Daniel morgens in die Küche kommt, sitzt Clemens schon am Laptop, kurz darauf trudeln auch Fabi und Alex ein. Während die Kaffeemaschine läuft, beginnt das, was Daniel den „morgendlichen Check-In“ nennt: Was liegt heute an, welchen Stand haben die Projekte? Braucht jemand Unterstützung?
Willkommen in Berlins prominentester Start-up-WG, einem 180 Quadratmeter großen Apartment im Bezirk Mitte. Vier junge Gründer leben hier und teilen nicht nur eine Wohnung, sondern auch ein Ziel: mit ihren jeweiligen Ventures groß rauszukommen. Einer hilft dem anderen, den Rest besorgt ein stetig wachsendes Netzwerk. Längst sind etablierte Unternehmen auf die Start-up-WG aufmerksam geworden – und nutzen sie, um ihre Produkte in der Gründerszene bekannt zu machen. „Wir sind für die wie eine Teststation“, sagt Daniel.
In den USA, zumal im Silicon Valley, sind Wohngemeinschaften von Gründer*innen nichts Ungewöhnliches und funktionieren auch als Geschäftsmodell: Die 2012 gegründete Start-up Embassy in Palo Alto beherbergte schon über 2000 Jungunternehmer*innen. In Deutschland blieben sie Ausnahmen; Neugründungen scheiterten zuletzt auch an Corona.
In der Münchner WG Hyprspace lebten bis zu 17 Jungunternehmer*innen
„Aktuell sind viele solcher Projekte pandemiebedingt zum Erliegen gekommen“, sagt Markus Bosch, Sprecher des Gründerzentrums UnternehmerTUM an der Technischen Universität München. Trotzdem würden Gründer*innen-WGs „insbesondere in den Tech-Metropolen an Bedeutung gewinnen“. In München etwa sind gleich zwei Projekte in Planung, die den Grundgedanken aufgreifen: Boardinghäuser nur für Gründer. Eins im Gründungszentrum Werk1.4 im Osten der Stadt, das andere neben dem Munich Urban Colab der TU.
Weitere Beispiele gibt es bereits. Die BWLerinnen Verena Hubertz und Mengting Gao etwa gründeten aus ihrer WG heraus Kitchen Stories, eine Koch-App, an der später Bosch-Tochter BSH eine Mehrheit übernahm. Die Münchner Groß-WG Hyprspace, 2017 gegründet, beherbergte auf 500 Quadratmetern über Jahre hinweg bis zu 17 Jungunternehmer*innen. Inzwischen gibt es die WG nicht mehr, weil die Vermieter das Haus wieder selbst nutzen wollten. Doch die Bewohner*innen schwärmen immer noch von der Gemeinschaftserfahrung.
„Man hat ähnliche Themen, die Community gibt Inspiration und Sicherheit“, sagt Tanja Baur, die im Hyprspace einzog mit der Idee, Smart Jewelry zu entwickeln. Feedback und Unterstützung gab‘s wie selbstverständlich am Küchentisch. Etwa als sie von einer Messe in Hongkong Chips mitbrachte, die mit einer App verbunden waren, und ein Mitbewohner warnte: Weißt du, wo deren Server stehen? Anschließend nahmen sie die Dinger im Munich Maker Lab auseinander.
Coworking im Wohnzimmer, Pizzabacken in der Küche
Tobias Wagner, der von 2017 bis 2019 im Hyprspace wohnte und eine intelligente Mehrfachsteckdose für Elektroautos entwickelte, erinnert sich an die Präsentation bei einem Pilotkunden, bei der alles schief ging; auf dem Rückweg dann noch die Absage für ein Förderprogramm. Seine Mitbewohner*innen richteten ihn wieder auf. „Sie haben mir gut zugeredet, dass ich nicht aufgeben soll.“ Heute macht Wagner als CEO des Tech-Start-ups Charge X mehrere Millionen Euro Umsatz im Jahr.
Auch Daniel und seinen Kumpels, die in Berlin seit zwei Jahren Küche, Bad und Wohnzimmer teilen, spornen sich gegenseitig an. Daniel Michailidis hat die Social-Media-App Fuego kreiert, deren Nutzer*innen Videos drehen und bewerten. Fabian Tausch betreibt den Gründer-Podcast Unicorn Bakery. Clemens Kauschke hat eine Agentur für Digitalmarketing gegründet, und Alex Oberschelp versucht seine Rapper-Band O’Bros als Marke zu etablieren. „Wir gehen unterschiedlich an die Dinge ran. Genau das macht den Erfolg aus“, sagt Daniel.
Wo sich Netzwerke kontaktfreudiger Gründer kreuzen, ist zudem immer etwas los – das Magazin „Business Punk“ nannte die Dachgeschosswohnung einen „Hotspot der Gen Z“. Wenn es die Pandemie zulässt, lädt die WG zu Partys ein oder zum gemeinsamen Kochen. Viele Freunde und Bekannte kommen auch einfach so vorbei, zumal das Wohnzimmer zur Coworking-Zone erklärt wurde. „Auch wenn wir mal weg sind, sitzen da zwei, drei Leute und arbeiten“, sagt Daniel.
Fujitsu spendete Notebooks
Als Reallabor, in dem sich eine aufstrebende Avantgarde versammelt, sind Start-up-WGs auch aus Marketingsicht interessant. Im Münchner Hyprspace gab es dafür sogar ein Format, eine regelmäßige große Pizza-Session für Geldgeber und Gründer, junge und etablierte Manager, Studenten und Professoren. „Dadurch ist das Haus bekannt geworden“, glaubt Tanja Baur. Und attraktiv für potenzielle Sponsoren.
Die Firma MyPaketkasten etwa stiftete eine app-gesteuerte Paketbox, der Netzwerkdienstleister AVM eine funktionsfähige Wlan-Verbindung – und vermarktete die Montage per Youtube-Video. Der Tech-Konzern Fujitsu stattete die WG nicht nur mit Notebooks, PCs und Displays aus, sondern nutzte sie auch als Brainpool und lud die Bewohner zu Gesprächen zum Thema New Work ein. „Start-ups arbeiten in den aktuellsten Hightech-Umfeldern, daher erwarten wir uns viel von der Zusammenarbeit“, sagte damals Heinz Wagner, Leiter Future Workspace bei Fujitsu.
Die Berliner WG, obwohl deutlich kleiner, wird mit Produkten geradezu überflutet, auch weil dort viele Influencer*innen ein- und ausgehen. „Gewürze, Riegel, Trinkmahlzeit, Ingwer-Shots, Kaffeemaschine“, zählt Daniel als Beispiele auf. Einer der treusten Unterstützer ist der Ginfabrikant Monkey47, der, so Daniel, „immer wieder für nette gemeinsame Abende sorgt“. Und dann sei da noch das Weingut Diehl, der traditionsreiche Stuttgarter Winzer.
Selbst das Weingut Diehl schickt Pakete
„Das stimmt, wir schicken denen hin und wieder ein Paket“, bestätigt Thomas Diehl, der das Weingut seit 2019 führt. „Sie gehören zu der Zielgruppe, die wir erreichen wollen. Deshalb positionieren wir unsere Marke gern in diesem Umfeld.“ Der Kontakt kam per Zufall: Mitbewohner Fabian Tausch hatte er über Clubhouse kennengelernt. Andere Sponsoren melden sich über LinkedIn oder Instagram bei einem der WG-Genossen.
So viele Vorteile Start-up-WGs zu bieten haben – mit der Gruppendynamik muss man umgehen können. „Im Hyprspace wurde einmal wöchentlich über schwierige Themen diskutiert“, sagt Tobias Wagner. In kleineren Einheiten ist das einfacher. „Bei uns fasst sich jeder selbst an die Nase, wenn sich Konflikte abzeichnen“, sagt Daniel aus Berlin.
Es hat schon Gründe, dass Wohngemeinschaften meist eine Zwischenstation bleiben. Hyprspace-Bewohnerin Tanja Baur ging nach drei Jahren. „Wir hatten im Lauf der Zeit immer mehr Regeln aufgestellt. Ohne sie funktionierte es nicht, aber mit ihnen ging der Spirit verloren.“ Heute betreibt sie in Prien am Chiemsee den B2B-Schmuckhandel Estelle Silver. Kontakt zu Mitstreiter*innen von früher hat sie aber immer noch. „Es war eine sehr schöne Zeit. Ich würde es jederzeit wieder machen.“
Diese Kolumne erschien zuerst in der April-Printausgabe der absatzwirtschaft.