Ein Geschäft mit Potenzial? Der Anteil der Nach-Hause-Lieferung von Lebensmittel in Deutschland ist heute noch gering. Weniger als ein Prozent des gesamten Lebensmitteleinzelhandels wird geliefert. Doch die Prognosen sind gut und Amazon Fresh könnte hier Vorreiter im Markt sein, sich womöglich auch eine Monopolstellung aufbauen. Für Prof. Stephan Rüschen, Studiengangsleiter Konsumgüterhandel der dualen Hochschule Baden-Württemberg und Professor im Studiengang BWL-Handel mit besonderer Spezialisierung auf den Bereich Food/Lebensmittelhandel, geht Amazon den richtigen Weg: „Amazon hat bis zu 85.000 Produkte im Sortiment, während Rewe und Kaufland auf rund 10.000 kommen – was weniger ist als in ihren Läden. Allein dadurch schafft Amazon für den Kunden eine ganz andere Qualität. Auch das Bestellen und die Auslieferung geht schneller und wird von Amazon Prime garantiert“. Gerade in Berlin wird das Angebot funktionieren, ist sich Rüschen sicher und hat auch für den gesamten Markt eine positive Vermutung: „Ich denke dass wir 2025 an die 10 Prozent-Marke rankommen können, was dann schon sehr viel wäre. Es ist ein angebotsgetriebener Markt, der Wachstumspotenzial hat. In Berlin gibt es jetzt schon drei Anbieter, das heißt der Druck steigt, weil alle bekannter werden wollen. Es bleibt spannend“.
Stadt versus Land
Neben frischem Obst und Gemüse, Fleisch und Fisch, Milch- und Kühlprodukten sind auch rund 6000 Bio-Produkte zu bekommen – selbstverständlich auch vegan oder gluten- oder laktosefrei. Geliefert wird täglich außer sonntags innerhalb eines gewählten Zwei-Stunden-Zeitfensters. Wird bis zum Mittag bestellt, kommt die Lieferung nach am selben Tag ab 16 Uhr. Doch warum startet Amazon Fresh in Großstädten, wo es dort so viele Supermärkte gibt? „Hierbei geht es um die hohe Auslastung. Der Gegenentwurf wäre die Belieferung des ländlichen Raums, doch da gibt es eine ganz andere Auslastung der Lieferkapazitäten. In Großstädten lebt ein höherer Anteil an Menschen, die eine Affinität zu Onlinelebensmitteln haben, als auf dem Land“, meint Prof. Große Holforth, der das E-Commerce Institut der Hochschule Fresenius in Köln leitet. Auch Prof. Stephan Rüschen hat eine klare Meinung: „Die Zielgruppe in der Stadt passt besser zu so einem Dienst, dazu geht es um eine profitable Auslieferung. Die ist in der Stadt besser gewährleistet wenn man auf einer Straße sechs Stops machen kann, anstatt 20 Minuten aufs Land rausfahren zu müssen. Ich denke im zweiten Schritt werden auch die ländlichen Regionen beliefert“. Auch die Zahlen belegen die höhere Rentabilität eines Starts in Großstädten: Amazon hat sicherlich auch abgewogen, wo die meisten Amazon Prime Kunden beziehungsweise aktuell das größte Marktpotenzial auf engstem Raum für Amazon Fresh gegeben ist. Bislang steht Amazon Fresh nur Amazon Prime Kunden zur Verfügung. Geschätzt hat Amazon aktuell zwischen 17 und 18 Millionen Prime Kunden in Deutschland, davon sicherlich mit mehr Marktanteilen und Dichte in Großstädten, als in Kleinstädten oder im ländlichen Raum“, sagt Jörg Walbaum, Senior Rating Analyst bei Euler Hermes Rating. Hinzu komme, dass wir nach Österreich die weltweit zweithöchste Supermarktdichte in Deutschland haben, auch in ländlichen Regionen brauche man kaum mehr als zehn Minuten zum nächsten Supermarkt. „Das erschwert zusätzlich eine schnelle Marktdurchdringung und Veränderung des traditionellen Kaufverhaltens. Aber es wird mittelfristig aus unserer Sicht auch kommen. Mit DHL hat sich Amazon auch für einen Partner entschieden, der 80 Prozent des deutschen Marktes logistisch abdeckt“, so Walbaum. Der Auslieferer der Frischeware DHL, qualifizierte sich durch bisherige Erfahrungen im Lebensmittel-Segment. DHL betreibt bereits unter dem Namen Allyouneed Fresh selbst einen Lieferdienst, auch für Amazon ist der Dienstleister bereits seit Jahren tätig. „Diese Kooperation war für mich überraschend und scheint für mich auch falsch zu sein. Denn der Fahrer ist das einzige Gesicht, welches der Kunde bei der Auslieferung sieht. Da würde ich als Zulieferer meine eigenen Leute einstellen, die dann als Mitarbeiter von Amazon agieren und darauf vorbereitet sind“ sagt Rüschen. Lange wird es allerdings nicht dauern, ist sich Rüschen sicher, bis Amazon selbst neue Lieferwagen und Mitarbeiter einstellt.
Berlin ist erst der Anfang
Obwohl die Supermarktdichte in Deutschland ohnehin so hoch ist wie in keinem anderen Land in Europa, wird nun in Berlin Online geshoppt – es scheint die neue Spielwiese des Lebensmittelversandhandels zu sein. Wohl auch, weil es die Hauptstadt ist und somit Leuchtturmcharakter hat. Dazu ist Deutschland nach den USA einer der wichtigsten Märkte. Andere Länder, wie Südkorea, sind was die Lieferung von Lebensmitteln angeht, deutlich weiter und befinden sich jetzt schon im zweistelligen Prozentsatz. „In Deutschland funktioniert so ein Lieferdienst nicht. Die Deutschen gehen lieber in den Supermarkt und wollen das Obst selbst anfassen“. Solche Sätze hört man in letzter Zeit oft, doch Fakt ist: Die Zeit der Familienhaushalte und Singles wird immer begrenzter. Ein Lieferdienst, der die Basicartikel frei Haus liefert, kann so zu einem großen Vorteil werden. Prof. Große Holforth, Experte auf diesem Gebiet, weiß: „Das Thema Lebensmittellieferung ist wie Loch Ness, es taucht immer mal wieder auf. Ich denke dass es in Zukunft einen nennenswerten Onlinelebensmittelhandel geben wird, der gerade für einzelne Personen geschaffen ist oder für Grundeinkäufe von Familien“. Große Holtforth lehrt Betriebswirtschaftslehre und Medienwirtschaft an der Hochschule Fresenius in Köln in den Fachgebieten E-Commerce, Online Marketing, Entrepreneurship.
Schwerer Start für Rewe Digital
Andere Lieferdienste, wie Rewe Digital, haben noch Anlaufschwierigkeiten – obwohl es schon seit 2011 einen Lieferservice der Rewe Group gibt. Ihr Service ist derzeit in 75 Städten – darunter u. a. in Berlin, Hamburg, Frankfurt, München und Köln – und dem Umland verfügbar. Warenverfügbarkeit und Pünktlichkeit sind allerdings noch zwei Punkte, die eine Überarbeitung benötigen. „Rewe arbeitet extrem daran, die Lieferung zu verbessern. Aber es hat auch immer etwas mit der Digitalkultur im Unternehmen zu tun. Bei Rewe steht der stationäre Handel im Mittelpunkt und viele Händler haben kein Interesse am Onlinehandel. Amazon ist ein digitales Unternehmen und wird immer Lösungen finden wollen“, erklärt Große Holtforth. Warum finden keine Kooperationen zwischen den Handelsketten und dem Digitalwunder Amazon statt? Große Holtforth: „Amazon ist kein kooperatives Unternehmen. Wenn man sich die Gesamtstrategie des Unternehmens ansieht, weiß man, dass sie den Anspruch haben, alle lieferbaren Produkte im Sortiment zu besitzen und nur Kooperationen mit kleinen Händlern eingehen.“
Klar ist für die drei Experten: Amazon Fresh kann sich auszahlen, wenn das Unternehmen einen langen Atem besitzt. Familieneinkäufe könnte man über eine Onlinebestellung viel schneller abwickeln und somit Zeit für die Familie haben. Dafür muss die Infrastruktur besser ausgebaut werden und die Qualität der Produkte darf nicht leiden. Denn eines scheint ganz klar zu sein: Die Gesellschaft muss darauf achten, dass Nachhaltigkeit im Mittelpunkt steht. Zu viel Verpackung, Lieferfahrzeuge mit Dieselmotor und eine schlechte Lebensmittelqualität können dazu führen, dass das Projekt der Onlinebestellung zu einem Desaster werden kann. „Ich bin davon überzeugt, dass E-Commerce die Welt verbessern kann. Aber man muss darauf achten, dass solche Projekte die Welt nicht verschlechtern“, meint Große Holtforth.