Herr Feindt, mit dem Filmhit „Barbie“ war im Sommer plötzlich die Farbe Pink omnipräsent. Vom Schuh bis zum Lippenstift, von der Handtasche bis zum Blazer – „Barbiecore“-Produkte wurden gekauft wie verrückt. Nun arbeiten Predictive-Analytics-Systeme mit Daten aus der Vergangenheit. Was machen die Systeme bei solchen Barbie-Effekten?
Die Systeme berücksichtigen die Langfrist- und die Kurzfristperspektive. Langfristig wirkt sich der Effekt wahrscheinlich gar nicht mal so stark aus. In einem Jahr ist der Spuk vorbei. Aber erst mal werden neue Fakten geschaffen. Solche Sachen sind nicht vorherzusehen. Wohl aber, dass der Trend jetzt zunächst so bleibt. Das menschliche Verhalten ändert sich in der Regel nicht von heute auf morgen. Typisch ist vielmehr, dass es sich langsam ändert, und das wird von Predictive-Analytics-Modellen berücksichtigt.
Wenn ein Black Swan auftaucht – also ein unvorhersehbares Ereignis wie der Corona-Ausbruch oder der verkeilte Tanker im Suezkanal –, ändern sich Lieferbedingungen und Kaufverhalten sehr schnell und teils längerfristig. Was passiert dann?
Ein gutes KI-System lernt aus vielen Daten und versucht, kausale Zusammenhänge herzustellen, anhand derer es Vorhersagen trifft. Dann kommt aber noch ein zweiter Schritt: Das System guckt nur auf die letzten paar Tage und prüft, ob alles so gelaufen ist wie erwartet. Wenn das nicht der Fall ist, dann lernt es daraus und korrigiert seine Voraussagen. Der Algorithmus passt sich an neue Gegebenheiten an und lernt sehr schnell, dass beispielsweise während des Lockdowns die Nachfrage nach Toilettenpapier steigt oder die nach Kleidung sinkt. Das System prüft, ob es sich um statistisch relevante Effekte handelt oder nicht. Wenn ja, korrigiert es die Prognose für morgen schon ein bisschen in die Richtung und wird dann sehr schnell sehr gut.
Wir führen dieses Interview im Oktober. Wissen Händler mit professionellen Predictive-Analytics-Tools schon, was im Weihnachtsgeschäft die Renner sein werden?
Ansatzweise ja, aber nicht im Detail. Bis dahin kann eben auch noch etwas passieren. Je weiter der Prognosehorizont entfernt ist, desto größer wird die Unsicherheit. Das heißt: Man weiß schon etwas, aber man wird auch in der Zeit bis dahin noch dazulernen.
Ab welcher Unternehmensgröße lohnt es sich für einen Onlineshop, Predictive-Analytics-Tools einzusetzen?
Gute Frage. Das ist nicht ohne. Blue Yonder zum Beispiel hat nur wirklich große Kunden ab einer halben Milliarde Umsatz. Allein wegen der Datenmenge. Solche Software und auch die Implementierungsprojekte sind nicht billig. Sie erfordern eine Einbindung aller Daten, es müssen viele Prozesse geändert und automatisiert werden. Aber es gibt mittlerweile auch Start-ups, die solche Tools für kleine Händler entwickeln. Außerdem werden die großen Anbieter günstiger werden im Laufe der Zeit. Allerdings: Es braucht Fachkräfte. Also IT-Fachkräfte. Das sehe ich als das größte Problem. Es gibt insgesamt in der Industrie und besonders im Handel zu wenig Analysten, die quantitativ aus den echten Zahlen datengetriebene Aussagen treffen können.
Schätzungen zufolge bleiben mindestens 10 Prozent aller Kleidungsstücke im deutschen Handel unverkauft. Ein riesiger Verlust – und ein riesiger Müllberg. Ließe sich das mit Predictive Analytics verhindern?
Gerade bei Mode gibt es eine große Unsicherheit, die man nie ganz wegkriegen kann. Aber wir können natürlich so gut wie möglich prognostizieren. Händler sollten nicht auf Teufel komm raus einfach viel zu viel einkaufen und hoffen, dass sie die Ware irgendwie loswerden. Da kann man auf jeden Fall nachhaltiger handeln, Predictive-Analytics-Methoden helfen dabei.
Wieso werden dann so viele Produkte verramscht, verbrannt oder entsorgt?
Es ist einfach oft so, dass selbst Unternehmen, die solche Modelle einsetzen, die Einkaufsvorschläge des Systems überschreiben. Es gibt Experten, die sagen: „Ich mache das hier schon seit 20 Jahren und ich weiß, dass dieses Produkt ein Renner wird!“ Und dann werden nicht 20.000 Stück eingekauft, wie es das System vorschlägt, sondern 100.000 Stück. So etwas gibt es immer wieder, vor allem bei besonderen Anlässen wie Weihnachten.
Aber das System weiß doch auch, dass Weihnachten ist?
Ja, es fließen alle Daten ein und natürlich berücksichtigt das System, dass zu Weihnachten mehr gekauft wird. Und trotzdem heißt es: „Wir schlagen noch um Faktor zwei oder fünf drauf.“
Und dann?
Dann wird nach Weihnachten der ganze Überschuss weggeschmissen.
Das ist ökologisch und ökonomisch schädlich.
Genau. Aber wenn es um emotionale Entscheidungen geht, sind wir Menschen immer extrem. Da überwiegen Totstellen oder Fliehen oder Kämpfen – und nicht Nachdenken und Kompromisse finden. Die Angst, zu wenig zu haben, führt dazu, dass Händler nicht rational rechnen. Sie wollen einfach sicher sein, dass bis zum Abend vor Weihnachten alle Regale voll sind.
Die EU bringt zahlreiche Richtlinien für ein nachhaltigeres Wirtschaften auf den Weg. Der Druck im E-Commerce in Richtung Nachhaltigkeit steigt. Sie haben dazu einen interessanten Vorschlag.
Absolut. Wenn Händler mit einem numerisch-algorithmischen System arbeiten, können sie beliebig einstellen, was sie optimieren wollen. Das kann zum Beispiel der Gewinn sein. Sie können aber genauso gut zu 80 Prozent den Gewinn und zu 20 Prozent ihre Nachhaltigkeitsziele optimieren. Dabei kann es zum Beispiel um weniger Lebensmittelvernichtung gehen oder um einen geringeren CO2-Ausstoß. Es ist mathematisch total egal, welche Kostenfunktion ich optimieren möchte.
Das geht dann vermutlich zulasten der Rendite?
Ja, aber das ist genau der Punkt: Man optimiert die Kombination. Wahrscheinlich wird das Optimieren der Nachhaltigkeitsziele ein bisschen zulasten der Rendite gehen. Das kann man leicht überprüfen. Aber wenn es zum Beispiel gesetzliche Vorgaben gibt oder eine Reporting-Pflicht, dann ist das Verfolgen der Nachhaltigkeitsziele ja auch ein Wert. Um diesen Wert zu beziffern, wäre es ökonomisch gut, wenn man alle Ziele bepreist. Dann hat man eine Basis.
Eigentlich müsste doch jedes Unternehmen danach gieren, intelligente Modelle einzusetzen, um ein maximal gutes Geschäft zu machen …
Natürlich. Die Gefahr, die ich sehe: Das tun nur einige und das sind im Wesentlichen die ganz Großen wie Amazon und Apple oder Google. Die stecken irrsinnig viel Brainpower in ihre Geschäftsmodelle und nutzen alle Daten konsequent. Und deshalb sind sie zurzeit die erfolgreichsten Unternehmen der Welt.