Man stelle sich vor, Sie haben ein Projekt. Das steht nicht nur im Jahresplan Ihrer Abteilung, sondern auch in Ihren persönlichen Jahreszielen. Sie haben Budget und ein Team. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dieses Projekt nicht zu Ende führen? Na? Seien Sie ehrlich! Mein persönlicher Tipp lautet: nahe Null.
Wenn dieses Projekt in der oben beschriebenen Form erst einmal auf der Welt ist, wird es nicht sterben. Nach einigen absolvierten Projektmodulen sehen Sie zwar klarer. Aber egal, wie sinnlos der gesamte Ansatz oder wie belanglos das zu erwartende Ergebnis nun auch erscheinen mag, Sie werden diesen toten Gaul über die Ziellinie reiten. Sie werden noch eine PowerPoint in Auftrag geben. Vielleicht produzieren Sie auch ein schwungvolles Video oder bauen einen schönen Prototyp. Aber mitten im laufenden Betrieb einfach den Stecker ziehen? Budget und Verzielung rückabwickeln und stattdessen etwas Neues anfangen? Kommt nicht in die Tüte. Warum werfen wir so stoisch und unreflektiert dem guten Geld- und Zeitbudget nun auch noch schlechtes hinterher?
Falsche Planung, falsches Ego
Falsche Projektplanung: In den unteren Hierarchieebenen schafft man Räume für agiles Denken und Arbeiten. Design Thinking & Co gehören zu den Pflichtfächern jedes Corporate Education Programms. Selbst der Hausmeister ist schon Scrum Master. Die Governance-Struktur der meisten Unternehmen ist aber immer noch linear und viel zu starr. Während die Teams wöchentlich davon sprinten, humpelt die Chefetage mit monatlichen Steuerkreisen und einer Einreichungsfrist für die Agenda von selten unter drei Tagen hoffnungslos hinterher. Diejenigen im Top-Management, die die agilen Geister nicht nur rufen, sondern auch mit ihnen tanzen wollen, sind heillos überfordert von der schieren Masse und Frequenz an Entscheidungen, die sie treffen sollen. Der größte Mehrwert von agilem Arbeiten – das frühzeitige Erkennen von Dead-End-Projekten und das leichtfüßige Beenden und Umsteuern – wird systematisch verhindert.
Falsches Ego: Wir ziehen durch, was wir anfangen. Geben Gas. Haben Biss. Und für das Gegenteil haben wir eher wenig übrig. Wir setzen Dinge nicht in den Sand. Je höher man in Entscheider-Etagen kommt, desto dominanter wird der kategorische Imperativ: Wenn jeder so schnell aufgeben würde, wäre diese Firma nicht da, wo sie heute ist. Ein Projekt aus freien Stücken vor der Zeit zu beenden, ist für Viele dem Versagen gleich gesetzt. Das Agilitäts-Mantra „Fail Forward“ ist meist nur ein populäres Buzzword. Ein Lippenbekenntnis und kein bisschen mehr. In Japan gibt es den Begriff „karoshi“: Den Tod durch Überarbeitung und perfektionistisches Durchboxen sämtlicher Projekte bis zur totalen Erschöpfung. Egal wie sinnvoll oder sinnlos. Scheitern inakzeptabel. Denken Sie mal drüber nach: Ist das nur ein trauriges Vorbild – oder gar ein Ebenbild?
Pro Ende mit Schrecken
Ich plädiere für zwei Dinge. Vorschlag eins: Mehr Freiraum für die Teams. Der fieberhafte, teilweise missionarische Eifer, mit dem Agilitätsmethoden gepredigt werden, ist nur moderner Ablasshandel des Top-Managements. Viel wichtiger als die Fähigkeiten der Mitarbeiter ist das Commitment des Managements, den Projektteams die volle Verantwortung für ihr Tun zu überlassen und auf deren Entscheidungen zu vertrauen.
Zweitens: Errichten Sie doch einen „Grabstein des Monats“! Machen Sie sich die Beendigung von Projekten und Initiativen zum Prinzip. Schlachten Sie jeden Monat eine heilige Kuh. Tragen Sie jeden Monat ein Projekt zu Grabe. Und tanzen Sie auf diesen Gräbern! Denn das ist souverän gelebte Agilität. Es ist erfrischender Neuanfang und kräftebündelnder Fokus. Denn wie heißt es so schön: lieber ein Ende mit Schrecken, als ein Schrecken ohne Ende. Im Leben wie im Business.