Der digitale Tsunami hatte sich angekündigt. Vorbildlich. Lehrbuchhaft. Vor der Flutwelle zieht sich das Wasser weit ins Meer zurück und genau das geschah im März, als die kommunikativen Systeme kurzzeitig in Schockstarre verfielen. Tagungen wurden vertagt. Pressekonferenzen ersatzlos gestrichen. Und der Smalltalk an der Kaffeemaschine war mit dem letzten Seufzer der Brüheinheit verdampft. Es herrschte Stille im digitalen Deutschland. Erholsam, kontemplativ, fokussierend und ablenkend zugleich.
Und dann fingen die ersten an zu schreien, als sie die Welle kommen sahen. Das waren die Pendler, die es gewohnt waren, während der lästigen täglichen Stausteherei schon mal das erste Drittel ihrer Organisationsaufgaben telefonisch zu erledigen. Verloren war das wohl nicht geliebte, aber immerhin effiziente Ritual. Und es wurde ersetzt durch ein „normales Telefonat“. Und man sitzt da ja zuhause. Und man muss sich vorher nicht anziehen. Und man muss sich auf nichts anderes konzentrieren. Und man hat da ja Zeit. Und plötzlich ist sie weg, die erste Stunde des Arbeitstages. Mit nur zwei Calls, in denen man zwei Termine für jeweils zwei weitere Calls koordiniert hat. Und das sind dann keine organisatorischen Abstimmungs-Calls, sondern echte virtuelle Meetings, theoretisch produktive Arbeitsrunden und im schlimmsten Fall Brainstormings oder Innovations-Workshops.
Home-Office ist wie Schulpflicht – nur schlimmer
Jetzt kann sie jeder sehen, die digitale Flutwelle, wie sie unwiderstehlich mit brachialer Kraft auf den idyllischen Strand unseres Homeoffice zurast. Und viel zu spät realisieren wir, dass es kein Entrinnen gibt. Es gibt keine Entschuldigung für „Nicht-am-Rechner-Sitzen“, denn Home-Office ist wie Schulpflicht – nur schlimmer. Und es gibt keine Entschuldigung für eine schlechte Internetverbindung. Hatte man den Kollegen letzte Woche nicht stolz davon erzählt, dass man das Rolling Stones Konzert live in 4K ins Wohnzimmer gestreamt hatte? Der geneigte Leser möge mir dieses virtuelle Horrorszenario verzeihen. Kein Mensch möchte sich Keith Richards wirklich in 4K vorstellen.
Schon zeigen sich erste Schaumkronen auf dem Wellenkamm. Dienstleister merken, dass ein Webinar doch ein cooles Werkzeug für die Kaltakquise ist. Und sie denken sich so nette Dinge aus, wie die virtuelle After-Work-Presentation. Virtuell ist daran nicht die Übertragungstechnik, sondern die Annahme, dass das was da geschieht „After Work“ ist. Selbst das digitale Gin-Tasting verlangt mehr kognitive Leistung, als der echte After-Seminar-Bar-Ausklang, denn wegducken gilt nicht. Das Gehirn – so haben britische Forscher herausgefunden – braucht viel mehr Leistung im Zoom-Meeting, weil man die Sprachlosigkeit der Gesichter, die einen im Online-Meeting permanent anstarren, zu dekodieren versucht.
Blick von unten in die weit geöffneten Nasenlöcher
Zu viele Informationen. Das ist vielleicht das wichtigste Learning aus der Webinar-Quarantäne. Man möchte nicht sehen, dass die adrette Kollegin aus dem Marketing hüftabwärts die Jogginghose von Rocky Balboa trägt, während sie gedankenverloren vom Webinar aufsteht um die Zimmertür zu schließen. Man möchte nicht hören, wie der einfühlsame, feingeistige Büronachbar verbal auf seine Kinder eindrischt, um seinen erdkundlichen Home-Schooling-Pflichten nachzukommen. „Natürlich liegt Oslo in Schweden“, ruft es durch den Raum, als er vergisst, sein Mikrofon stumm zu schalten.
Der junge Kollege aus der Buchhaltung hat natürlich – virtuos im Digitalen, wie die GenZ nun mal ist – sein Mikro auf stumm geschaltet. Aber er lebt halt so symbiotisch mit seinem Smartphone, dass er es immer bei sich trägt, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Auch beim Gang in die Keramikabteilung.
Und man möchte seinem Vorgesetzten auf keinen Fall von tief unten in die weit geöffneten Nasenlöcher schauen. Und doch kommt man von diesem Anblick nicht los. Der Vorgesetzte wiederum schaut – leicht kurzsichtig – auf den Delinquenten herab, also würde er gerade das Liebesleben eines Ameisenpärchens analysieren. In Zoom schaut meistens jeder auf die anderen herab. Mit leichtem Silberblick, weil er lieber die Qualität seines eigenen Konterfeis auf dem Bildschirm kontrolliert, als in die Kamera zu schauen. Wenn Narzissmus ein digitales Tool braucht, man hätte kein besseres erfinden können.
Digitale Flutwelle spült allerhand Unrat hervor
Man könnte ja auf ihr surfen, auf der digitalen Webinar-Flutwelle, wenn sie nicht allerhand Unrat an den Homeoffice-Strand spülen würde: Verranzte Greenscreens, die bei jeder Kopfdrehung Teile von Gesicht und Haaren wegfressen. Schlechte Tonübertragung, weil keiner auf dem Schirm hat, dass Bluetooth ein Kurzstreckenfunk ist, der empfindlich darauf reagiert, wenn zwischen dem Sender (inEar) und dem Empfänger (inTablet) ein Stück der zu großen Nase des Sprechenden stört. Grausame Bildübertragung, weil man den werten Kollegen noch nicht mitgeteilt hat, dass ihr Notebook auch eine LAN-Buchse hat. „Heute ist Vodafone wieder besonders schlecht.“ NEIN! Deine Kids surfen gerade im gleichen WLAN. Kabel dran und gut ist’s. Für die jüngeren Leser: Die LAN-Buchse kann ein Kabel empfangen, mit dem eine verlustfreie Verbindung zum Router hergestellt werden kann, die 100 Mal so schnell ist wie WLAN.
Auch im vierten Monat der ferngesteuerten digitalen Zusammenarbeit haben viele immer noch nicht begriffen, dass ein Fenster KEIN guter Hintergrund für das Bild von einer lichtempfindlichen Webcam ist. „Aber ich möchte den Kollegen so gerne zeigen, wie idyllisch es hier in XY-Dorf ist.“ GENAU. Angeben willst Du. Sie fertig machen willst Du. Rechtfertigen willst Du Dich, warum Du freiwillig an den Hintern der Welt gezogen bist. „Da hat man mehr Lebensqualität. Und die Luft ist besser“, sagst Du und hofft doch inbrünstig darauf, dass Du bald wieder täglich 60 Kilometer mit dem Euro4-Diesel pendeln darfst.
Und wenn es ganz hart kommt, dann gibt es Screensharing. Zoom kann da ja echt gemein sein, bei der Auswahl des zu übertragenden Fensters. Schwups erfreut man die Kollegen mit dem geöffneten Chrome-Tab zu Tinder oder dem persönlichen Amazon-Warenkorb. Oder – auch in Präsentationen sehr beliebt – man zeigt den Kollegen ein Video auf Youtube. Und das läuft dann etwas ruckelig. ACH! Ist schon klar, dass das Video erst von Youtube auf den Rechner des „Opfers“, von dort auf die Server von Zoom und von dort auf die Rechner der Anteilnehmer übertragen wird. Eine Verdreifachung der nötigen Videolast im Netz ist übrigens auch eine ganz tolle Idee für die CO2-Bilanz.
„Webinar“ und „kostenlos“ per Spamfilter gesperrt
Nein wirklich. Es reicht. Ich setze mich jetzt auf meine – während der offiziellen Homeoffice-Arbeitszeit – renovierte Terrasse und schaue der Flutwelle beim abebben zu. Ich halte eine Kaffeetasse in Händen, in der routinemäßig ab 11.30 Uhr Chardonnay schwappt, und ich habe eine KI gerade damit beauftragt, meine nächste Keynote zu schreiben. Längst habe ich die Begriffe „Webinar“ und „kostenlos“ auf die Blacklist meines Spamfilters geschrieben. Ihr kommt auch ganz gut ohne mich klar. Ich fühle da einen leichten Anflug von Zoom-Erschöpfung hinter meinem rechten Ohrläppchen.
Und wenn das ganze aufgeheizt schäumende Tsunami-Webinar-Wasser wieder abgelaufen ist, wird darunter blühendes Neuland erscheinen. Wir haben gelernt, dass man auch mit Online-Meetings sorgfältig umgehen sollte, sowohl in Sachen Zeitplanung als auch beim Dresscode und der Kamerapositionierung. Und wenn wir wieder ins Büro dürfen, wird das Home ganz ohne Office wieder seine angestammte Funktion als Oase der Ruhe entfalten dürfen. Der grüne Vorhang verschwindet im Schrank, die Webcam wird abgeschraubt und das Fotolicht landet bei Ebay Kleinanzeigen.
Eigentlich ist nichts passiert.
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