Von Armin Hingst
„Fleisch mit Fleisch oder Fleisch ohne Fleisch – Hauptsache, es schmeckt.“ Der neunmalkluge Fünf- oder Sechsjährige im grauen Pullover bringt beim Youtube-Spot „Veggie-Dingsda“ der Rügenwalder Mühle auf den Punkt, worauf es den Lebensmittelherstellern aus Bad Zwischenahn ankommt. Die sind bekannt dafür, sich nicht nur für Neues zu begeistern, sondern das dann auch konsequent umzusetzen. Mit allen Investitionen, die dafür nötig sind. Da geht es dann schon einmal um die Wurst, auch wenn Vegetarisches im Spiel ist. Denn das muss getrennt von den klassischen Fleischereiprodukten hergestellt werden und dazu braucht es separate Produktionslinien. Was natürlich mehr Geld kostet, als einfach noch eine weitere Wurstvariante anzubieten.
Kein Fleisch in der Wurst
Umso beeindruckender, dass auch diese Innovation bei der Rügenwalder Mühle möglich war – einer der bekanntesten Fleischverarbeiter der Republik verarbeitet in einem Teil seiner Produkte inzwischen gar keins mehr. Und dieser Teil ist nicht nur größer als gedacht, er wächst auch immer weiter. Inzwischen gibt es bereits die vierte Mortadella-Sorte ohne Fleisch, die Veggie-Frikadellen brummen und fleischfreie Schnitzel gibt es auch.
Im Dezember 2014 kam das erste vegetarische Produkt auf den Markt, mit dem Godo Röben, Geschäftsleitung Marketing & PR und Forschung & Entwicklung, einmal mehr das Vertrauen seines Chefs Christian Rauffus strapazierte. Zwar haben viele ungewöhnliche Ideen aus der Röben-Abteilung schon funktioniert. Wer hätte etwa gedacht, dass man mit wurstwasserlosen Würstchen im Becher statt im Glas Furore machen kann (Mühlen Würstchen, siehe Marken-Award 2013). Aber als Fleischer künftig teilweise fleischlos unterwegs zu sein, ist selbst für die Rügenwalder Mühle schon extrem.
Die neue Mortadella ohne Fleisch
Doch Röben und seinen Mitstreitern war die Entwicklung im Lebensmittelmarkt nicht entgangen – bezeichneten sich im Jahr 1983 einer GfK-Studie zufolge noch ganze 0,6 Prozent der Deutschen als Vegetarier, waren es Mitte 2015 schon rund zehn Prozent, wie das Institut für Demoskopie Allensbach und die Online-Meinungsforscher von Yougov herausfanden. Mehr noch: Nach einer Welle an vegetarischen Speziallebensmittelshops eröffneten seit dem Start des Dortmunder „Vegilicious“ Anfang 2011 auch immer mehr rein vegane Läden. Sicher, das ist alles noch Nische. Und auch der Dortmunder Markt schloss nach nur fünf Jahren. Aber der Trend ist ungebrochen, inzwischen macht eine Kette namens „Veganz“ von sich reden.
„Mein Großvater hätte zu dem Thema ,vegetarisch‘ gesagt, koch’ Dir ’nen Teller Nudeln“, fasst Firmenchef Christian Rauffus im Kinospot trocken zusammen, was wohl für die Mehrzahl klassischer Fleischer gilt. Möglich, dass das auch die erste Reaktion von Rauffus auf den Vorschlag war, vegetarische Produkte herzustellen. Wie auch immer, jedenfalls ließ sich der Chef der Rügenwalder Mühle auf das Experiment ein. Seine Familie bekam das Resultat als Test ohne große Erläuterung auf den Tisch, im Spot erzählt er, dass die Überraschung groß war, als er offenlegte, dass die neue Mortadella gar kein Fleisch mehr enthielt. Der Kinospot war Teil der Kommunikation rund um die neue Produktfamilie.
„Flexitarier“ heißen Menschen, die sich beim Fleisch bewusst zurückhalten wollen, ohne Wurst gleich ganz vom Teller zu verbannen. Die Gründe für die Zurückhaltung sind vielfältig. Dazu zählen tierrechtliche Erwägungen, die eigene Gesundheit oder die Umwelt. Kein Wunder also, dass über 40 Prozent der Deutschen gegenüber vegetarischen Wurstwaren aufgeschlossen sind, wie die Studie von IfD und Yougov feststellte, die im Mai 2015 herauskam. Da war er aber schon längst im Gange, der Erfolg der Initiative der Rügenwalder Mühle.
„Die Zeiten ändern sich. Die Mühle bleibt“
Auch Röben und seine Familie schätzen den vegetarischen Schinken Spicker. Der Marketingchef zählt sich selbst zu den Flexitariern: „Ja. Ich esse Fleisch, aber wenn, dann bewusst und immer seltener. Wenn ich mir eine Mortadella kaufe, hat es keinen Sinn für mich, eine Fleisch-Mortadella zu essen. Unser vegetarischer Schinken Spicker schmeckt genauso. Es gibt aber Produkte wie eine gute Salami oder ein Steak, für die gibt es derzeit noch keinen fleischfreien Ersatz. Dann esse ich lieber das Fleisch.“ Die Kommunikation rund um die neue, vegetarische Produktlinie ist in enger Teamarbeit verschiedener Agenturen entstanden, koordiniert von BrawandRieken. Geschäftsführer Peter Brawand betont denn auch das „Gemeinschaftswerk des ,Bautrupps‘“, wie sich der Kreis aus Werbern und PR-Spezialisten nennt, der sich schon seit Jahren um die Mühle kümmert. Relativ schnell war klar, dass es keine eigene neue Marke geben würde: „Die Zeiten ändern sich. Die Mühle bleibt“, umreißt Brawand den Ansatz, der auf Glaubwürdigkeit setzt und sich damit treu bleibt.
Dass die sozialen Medien hingegen keine so große Herausforderung waren, wie befürchtet, wundert Ludwig auch noch ein Jahr später: „Wir hatten mit Shitstorms gerechnet, was aber kam, war eine Fülle an positiven Reaktionen von Verbrauchern.“ So viele, dass die Rügenwalder Mühle, die alle Kundenschreiben und Anrufe selber beantwortet, Mühe hatte, den Ansturm zu bewältigen. Statt normalerweise rund 20 Mails pro Monat kamen nun bis zu 50 – am Tag. Von allen eingegangenen Mails waren rund 90 Prozent positiv.
Vegetarier finden die Rügenwalder Mühle jetzt sympathisch
In der Zielgruppe der Vegetarier stieg die spontane Werbeerinnerung innerhalb eines halben Jahres von 18 auf 39 Prozent (ICON Added Value Ad Trek). Und die Klientel beurteilt den früher reinen Fleischproduzenten inzwischen deutlich positiver, 40 Prozent der Vegetarier finden die Rügenwalder Mühle jetzt sympathisch, ein halbes Jahr zuvor waren es nur 19 Prozent. Anlass genug für die Rügenwalder Mühle, noch eins draufzulegen. „Auch in diesem Jahr wird es wieder einiges an neuen Produkten geben. Wir sind derzeit noch dabei, den Geschmack zu optimieren.“ Auch hier geht es um die Wurst: Sie muss schmecken. Die vegetarischen Varianten tun es schon jetzt so sehr, dass gleich ganz neue Produktionslinien entstehen, um mit der Herstellung nachzukommen – der Bau startete bereits. Da klingt es für den geplagten Wettbewerb womöglich prophetisch, was die freundlich lachende Kleine mit dem Pferdeschwanz im Dingsda-Youtubespot zum Schluss sagt: „Euch gebe ich aber nix ab!“