Gesucht: Expert*innen für eine grüne Zukunft

Der Nachhaltigkeitsrat fordert eine Bildungsoffensive und das Recycling-Start-up HolyPoly beschafft sich per Crowdfunding eine Million Euro, um neue Talente anzuwerben.
Nachhaltigkeitsrat fordert Bildungsoffensive und freie Plätze in der Green Economy
Freie Stellen in der Green Economy: Der Umstieg auf nachhaltige Wirtschaft schafft laut der Bertelsmann Stiftung 600.000 zusätzliche Arbeitsplätze. (© Unsplash)

Trügt der Eindruck oder steht Nachhaltigkeit bei vielen Unternehmen tatsächlich nicht mehr ganz oben auf der Agenda? Wirtschaftskrise, Fachkräftemangel, fehlende Konsumlust der Verbraucher*innen, dazu der Hype um Künstliche Intelligenz – da können sich die Prioritäten schon mal verschieben. Auch wenn alle wissen, dass der Klimawandel fortschreitet und der Handlungsdruck nicht sinkt, sondern steigt.  

Es gibt ja den Attitude-Behavior-Gap nicht nur bei Konsument*innen. Oder befinden wir uns, analog zum „Hype Cycle“, im Tal der Enttäuschungen, das unausweichlich auf große Hoffnungen und Erwartungen folgt? So schnell geht es halt nicht mit der Transformation.  

Noch besser wäre es, wir wären bereits auf dem Plateau der Produktivität angelangt: Das ist die letzte Phase des „Hype Cycle“, in der sich Trends verstetigen und es auch deshalb stiller um Technologien wird, weil sie nicht mehr ganz so neu sind und allmählich in der Praxis Einzug halten. Die „Süddeutsche Zeitung“ beschreibt in einer bemerkenswerten Reportage, wie im Saarland die Dillinger Hütte auf grünen Stahl umstellt, allein die öffentlichen Fördermittel belaufen sich auf 2,6 Milliarden Euro. Das Mammutprojekt zeigt nicht nur die finanzielle Dimension des Ziels Dekarbonisierung, sondern auch die menschliche: Arbeiter*innen in Dillingen wissen, wie man einen klassischen Hochofen bedient. Aber eine Direktreduktionsanlage oder einen Elektrolichtbogenofen?  

Transformation schafft Jobs – aber nicht überall 

Laut einer Analyse der Bertelsmann Stiftung wird der Umstieg in eine nachhaltige Wirtschaft zum Jobmotor für Deutschland. Bis zu 600.000 zusätzliche Arbeitsplätze könnten in den nächsten 15 Jahren entstehen. Klar ist aber: Neben Gewinnerbranchen wie Bau, IT und Bildung wird es auch Verlierer geben. Die Forscher*innen verorten sie etwa in der Kfz-Branche und in energieintensiven Industrien. Das birgt soziale Sprengkraft. 

Nachhaltigkeitsrat fordert Bildungsoffensive 

„Gute Arbeit ist entscheidend für den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, warnt der Rat für Nachhaltige Entwicklung in einer aktuellen Stellungnahme und fordert eine Bildungsoffensive: „Deutschland steht vor einem generellen Arbeitskräftemangel, der durch die Umstellung auf Klimaneutralität verstärkt wird.“ Wo sind sie, die künftigen Expert*innen für Batterietechnik, Ökolandbau, Nachhaltigkeitsmarketing, Wasserstofftechnologie oder zirkuläres Planen und Bauen? Oft fehlt es ja selbst an praxisbezogenen Studiengängen oder Weiterbildungen. 

Employer Branding als Zukunftsfeld 

Unternehmen, die sich um solche Fachkräfte bemühen, erfahren das schon heute. In Zukunft werden sie es umso schwerer haben, je weniger sie sich glaubwürdig mit ESG-Themen beschäftigen, sagt Expertin Marie Kanellopulos im Interview mit der absatzwirtschaft: „Insbesondere der Mittelstand als auch Konzerne müssen sich mit einer klaren Botschaft am Arbeitsmarkt platzieren, sodass sie auch die jüngere Generation, die nun mal die Zukunft darstellt, für sich gewinnen können.“ Employer Branding dürfte in den kommenden Jahren eines der heißesten Themen im Marketing werden. 

Crowdfunding für Talente bringt eine Million Euro  

Manche gehen unkonventionelle Wege. Das Dresdner Start-up HolyPoly, das für Markenhersteller wie Bosch, Lamy oder Mattel zirkuläre Geschäftsmodelle fürs Kunststoffrecycling entwickelt, hat per Crowdfunding Geld eingesammelt, um neue Talente anwerben zu können. Mit der Investitionssumme sollen die nötigen Fachkräfte für neue Projekte akquiriert werden. „Wir haben schon jetzt mehr Projektanfragen auf der Liste, als wir bewältigen können“, sagt CEO und Mitgründer Fridolin Pflüger. Geplant ist 2024 ein Personalzuwachs von 10 bis 15 Prozent. Das angepeilte Ziel von 750.000 Euro war schon nach zwei Wochen erreicht, am Ende hatte die kleine Firma fast eine Million Euro eingeworben. Bei Dienstleistern steckt das Kapital in den Köpfen, das ist offenbar auch den Investoren klar. Jetzt muss HolyPoly die neuen Kolleg*innen nur noch finden – und begeistern. 

Eine gute Woche noch, und behalten Sie die Zukunft im Blick! 

(mat) führte ihr erstes Interview für die absatzwirtschaft 2008 in New York. Heute lebt die freie Journalistin in Kaiserslautern. Sie hat die Kölner Journalistenschule besucht und Volkswirtschaft studiert. Mag gute Architektur und guten Wein. Denkt gern an New York zurück.