Geschlossene Gesellschaft

Der stationäre Handel ist in weiten Teilen alles andere als barrierefrei. Eine kritische Bestandsaufnahme mit einem Lichtblick.
Für Kund*innen mit Autismus geht es in den meisten Läden viel zu laut und hell zu. (© Julia Schwarz)

Um es gleich vorwegzunehmen: Gespräche mit national relevanten Playern des Handels zum Thema Barrierefreiheit kamen nicht zustande. Weder mit Drogerieketten wie Budni, dm, Müller und Rossmann noch mit Mode- oder Warenhäusern wie C&A, H&M, P&C und Galeria. Aus dem Lebensmittelhandel steuerten immerhin einige wenige wie Aldi Nord, Kaufland, Netto und Rewe schriftliche Statements zur Recherche bei. Sprechen wollte auch hier niemand mit uns. Warum eigentlich nicht?

Auch renommierte Einrichtungen scheinen sich wenig mit einem barrierefreien Handel zu beschäftigen. Das Kölner EHI Retail Institute hat nach eigenen Angaben „keine Daten zu diesem Thema“. Und auch das ebenfalls in der Domstadt ansässige Institut für Handelsforschung hat Barrierefreiheit „in der Form noch nicht bearbeitet“.

Es gibt also nicht nur wenig Gesprächsbedarf, sondern auch kaum Datenmaterial darüber, wie barrierefrei der stationäre Handel hierzulande ist. Immerhin einen, wenn auch erschreckenden Anhaltspunkt lieferte 2016 der Informationsdienst „Marktjagd“. Dieser hatte rund 280.000 deutsche Einzelhandelsfilialen in Hinblick auf ihre Barrierefreiheit untersucht. Die Erkenntnis: Die Zahl der barrierefrei gestalteten Einzelhandels­flächen macht im Durchschnitt nur zehn Prozent aus. Mobilitätseingeschränkte Menschen, Rollstuhlfahrer*innen, Familien mit Kinderwagen und Senioren werden also schlichtweg ignoriert. Und das verwundert. Denn Barrierefreiheit ist nicht nur ein großes gesellschaftliches und generationenübergreifendes Thema, sondern auch ein Wirtschaftsfaktor.

Für Menschen mit Behinderung ist Einkaufen eine Riesenherausforderung – nicht nur für Rollstuhlfahrer*innen. (Illustration: Julia Schwarz)

Treue Kund*innen

Ende 2019 waren nach Daten des Statistischen Bundesamts in Deutschland 7,9 Millionen Menschen als Schwerbehinderte amtlich anerkannt. Dabei sind nur schwerbehinderte Menschen mit einem Behinderungsgrad über 50 eingerechnet. Laut dem größten deutschen Sozialverband VdK leben in Deutschland rund zehn Millionen Menschen mit einer Behinderung.

Als ein weiterer Indikator dafür, wie groß das Thema Barrierefreiheit in Deutschland ist, kann die stetig steigende Zahl der Einzelrentner*innen angesehen werden. Nach Prognosen des Statistischen Bundesamts wird in der Bundesrepublik bis 2035 die Zahl der Menschen im Rentenalter von 16 Millionen im Jahr 2020 auf voraussichtlich 20 Millionen steigen.

„Das große Problem ist, dass der Einzelhandel noch nicht verstanden hat, dass die demografische Entwicklung so weitergehen wird“, sagt Patrick Dohmen. Dohmen ist erster Vorsitzender des gemeinnützigen Europäischen Kompetenzzentrums für Barrierefreiheit e.V. (Eukoba). Die barrierefreie Gestaltung eines Ladens mache derzeit „ungefähr zehn bis zwölf Prozent des Umsatzes“ aus, sagt er. Dieser Wert werde laut Dohmen durch die demografische Entwicklung in zehn bis fünfzehn Jahren „auf mindestens 30 bis 40 Prozent des Gesamtumsatzes“ steigen. Und der Eukoba-Vorsitzende nennt noch einen weiteren Aspekt, der stationäre Händler aufhorchen lassen sollte: „Menschen mit Beeinträchtigung zählen zu den treuesten Kund*innen, die es überhaupt gibt.“ Denn: Wenn Händler auf ihre Bedürfnisse eingingen, habe man ein echtes Alleinstellungsmerkmal und sorge damit dafür, dass die Menschen wiederkommen.

Und was macht der Handel? Beziehungsweise: Was könnte er machen?

Barrierefreiheit bei MediaMarkt, Aldi und Kaufland

Wer an barrierefreies Einkaufen im stationären Handel denkt, stolpert meistens als Erstes über bauliche Aspekte. In Deutschland wurde 2010 die DIN 18040 für das barrierefreie Bauen und Planen veröffentlicht. Ziel der Norm ist die Barrierefreiheit baulicher Anlagen, damit sie für Menschen mit Behinderung in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind (nach § 4 BGG Behindertengleichstellungsgesetz).

Der Elektronikhändler MediaMarkt­Saturn Deutschland erwähnt die DIN als Einziger in der Recherche explizit. „Gemäß diesen Vorgaben haben wir die Barrierefreiheit in unseren Saturn- und Media-Märkten überprüft und – wo immer möglich – entsprechende Maßnahmen in die Wege geleitet“, sagt eine Sprecherin. So werde zum Beispiel bei allen Neueröffnungen, Umzügen und Kassenumbauten jeweils ein behindertengerechtes Kassenmodul mit eingebaut. Zudem achte MediaMarkt-Saturn darauf, dass die Durchgänge zwischen den Regalen eine Mindestbreite von 90 bis 120 Zentimetern haben.


Wie barrierefrei geht es in deutschen Städten zu? Thomas Riedel hat bei einem exemplarischen Streifzug durch Köln den Test gemacht. Eine Reportage.


Im Lebensmittelhandel klingen die Bemühungen, barrierefreies Einkaufen zu ermöglichen, durch die Bank weg vergleichsweise allgemeingültig. „Soweit es unsere eigenen Märkte betrifft, bemühen wir uns kontinuierlich, durch die Definition und Umsetzung unserer Baustandards immer so barrierearm wie möglich zu bauen“, teilt beispielsweise Aldi Nord mit.

Kaufland fährt einen ähnlichen Ansatz: „Wir bieten in allen unseren Filialen behindertengerechte Parkplätze, Einkaufswagen und Toiletten an“, lässt der Neckarsulmer Lebensmittelvollsortimenter aus der Schwarz-Gruppe wissen. Auch die Zugänge vom Parkplatz bis zur Filiale seien barrierefrei. Bei mehrstöckigen Filialen können Kaufland-Kund*innen wie bei Aldi Nord zudem einen Aufzug nutzen, und alle Filialen hätten „mindestens eine extra breite Kasse, deren Zugang breit genug ist, um mit dem Rollstuhl durchzukommen“.

Checkliste: Barrierefreiheit im Handel

Bei den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung und daraus resultierenden Marketingmaßnahmen geht es um mehr als nur um barrierefreies Bauen. „Rehacare.de“ hat basierend auf einer Umfrage in sozialen Netzwerken Anforderungen an den Einzelhandel bei unterschiedlichen Behinderungen zusammengetragen. Dabei wurden Kund*innen mit Behinderung in fünf verschiedene Typen unterteilt (siehe Infokasten unten).

Quelle: „Rehacare.de“

Die Übersicht zeigt zwei Dinge: Erstens, wie vielschichtig die Anforderungen an einen barrierefreien Einzelhandel sind. Und zweitens, dass es für Händler nahezu unmöglich ist, alle Arten von Barrieren vollumfänglich aus dem Weg zu räumen.

Umso wichtiger ist deshalb ein anderer Faktor: sensibles Personal. Einzig die Edeka-Tochter Netto Marken-Discount erwähnt diesen Aspekt in ihrer Antwort und verweist darauf, dass ihre Mitarbeiter*innen geschult seien, Kund*innen mit Behinderung „bei ihrem Einkauf zu unterstützen“, wie Kommunikationschefin Christina Stylianou sagt.

Sensibilisierung durch Selbsterfahrung

Der Anspruch ist das eine, die Realität das andere: Es ist keine extra angelegte Studie vonnöten, um zu der Erkenntnis zu gelangen, dass Menschen mit Behinderung in Deutschland mit wenigen Ausnahmen bei ihrem Einkauf nicht angemessen vom Personal behandelt werden. An dieser Tatsache setzt der sogenannte Lernladen an, der ein echter Lichtblick ist.

Beim Lernladen handelt es sich um ein seinerzeit vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) gefördertes bundesweites Pilotprojekt, das 2015 am Berufskolleg für Wirtschaft und Verwaltung in Aachen ins Leben gerufen wurde. Initiator sind Patrick Dohmen und Eukoba, die Ausstattung und Finanzierung wurde von Rewe West unterstützt. Umso erstaunlicher, dass Rewe sich zum Thema Barrierefreiheit nicht weiterführend äußern wollte.

Der Lernladen soll einen typischen deutschen Supermarkt repräsentieren – mit all den gängigen Barrieren für Menschen mit Behinderung. Hier werden Auszubildende von Berufskollegs zudem mithilfe von technischem Equipment in die Lage von Kund*innen versetzt, die auf den ersten Blick nicht sichtbare Beeinträchtigungen haben. Zu Simulationszwecken werden etwa elektrisch aufgeladene Handschuhe, Grauer-Star-Brillen oder Nietengurte am Rücken eingesetzt. „Sensibilisierung durch Selbsterfahrung“ lautet das Credo: Wie fühlt sich beispielsweise für Menschen mit Alterszittrigkeit der Griff in ein volles Regal an? Und wie finden Erblindete die gewünschte Ware? Bis Ende 2019, also bis vor Corona, hatten laut Dohmen bereits rund 5000 Schüler*innen von über 20 Berufskollegs an den Sensibilisierungsmaßnahmen im Lernladen teilgenommen. Und die Zeichen stehen nach Corona weiter auf Wachstum. So gibt es laut Dohmen bereits Zusagen von Rewe für die Ausstattung zweier weiterer Lernläden.

Dennoch wirkt der Eukoba-Mann unzufrieden, wenn er auf das Interesse am Lernladen aus dem Einzelhandel angesprochen wird. Er sagt: „Wir kriegen von den Auszubildenden und den Berufskollegs nur positives Feedback. Aber von den Unternehmen selbst kommt gar keine Rückmeldung. Da muss man sich fragen: Haben die es nicht kapiert?“

Eukoba sei mit dem Lernladen womöglich „der einzige Anbieter in Deutschland, wenn nicht in Europa, der sich der UN-Behindertenrechtskonvention gewidmet“ habe, sagt Dohmen nicht ohne Stolz – und verweist auf Artikel 8 des 2008 veröffentlichten Dokuments. Darin heißt es zur Barrierefreiheit unter anderem, dass die Vertragsstaaten „zu sofortigen, wirksamen und geeigneten Maßnahmen der Bewusstseinsbildung“ verpflichtet werden. „Ziel ist es, in der Gesellschaft das Bewusstsein für Menschen mit Behinderungen zu schärfen und die Achtung ihrer Rechte und ihrer Würde zu ­fördern.“

Wie soll ein*e Legastheniker*in gängige Verpackungsaufdrucke entschlüsseln? (Illustration: Julia Schwarz)

Barrierefreiheit im Handel: „Da kommt nix

Zusätzlich zum Lernladen führt Eukoba unabhängige Prüfungen von Barrierefreiheit durch. Seit 2006 ist der Verein Träger und Verleiher des „Eurecert“-Gütesiegels für Barrierefreiheit (EU-GS 904) für Objekte, Produkte, Personen und Dienstleistungen.

„Wir gehen nicht auf Masse, sondern zeichnen nur die Gebäude aus, die auch wirklich barrierefrei sind“, sagt Dohmen. Bei der Frage, wie hoch die Quote von Unternehmen aus dem Einzelhandel sei, die bereits eine Zertifizierung angefragt haben, muss der Eukoba-Mann nicht lange nachdenken. „Da kommt nix“, sagt er salopp und ernst zugleich. Ein anderes Zertifikat ist das sogenannte Qualitätszeichen „Generationenfreundliches Einkaufen“. An Einzelhändler vergeben wird es seit 2010 vom Handelsverband Deutschland (HDE), der das Siegel gemeinsam mit Partnern aus Politik, Handel sowie Senioren- und Verbraucherorganisationen entwickelt hat.

Aktuell tragen rund 6600 Unternehmen das drei Jahre gültige Qualitätszeichen vom HDE. Die Zahl ist, gemessen an allen in Deutschland existierenden Verkaufsstätten, klein. Michael Reink, Bereichsleiter Standort- und Verkehrspolitik beim HDE, stellt jedoch eine andere Zielstellung heraus. „Unser Ziel ist ja nicht, eine Höchstzahl an Unternehmen zu zertifizieren, sondern den Unternehmen einen hilfreichen Fahrplan für den Ladenbau zu geben“, sagt er. Reink geht ohnehin davon aus, dass weitaus mehr als die vom HDE lizenzierten Unternehmen die Kriterien des Qualitätszeichens auch so erfüllen.

Von 100 Prozent Barrierefreiheit sind die meisten deutschen Händler tatsächlich sehr weit entfernt. Und was die mangelnde Gesprächsbereitschaft zum Thema angeht: Handeln ist ohnehin besser, als bloß drüber zu reden.

Dieser Artikel erschien zuerst in der März-Printausgabe der absatzwirtschaft.

(he, Jahrgang 1987) – Waschechter Insulaner, seit 2007 Wahl-Hamburger. Studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften und pendelte zehn Jahre als Redakteur zwischen Formel-1-Rennstrecke und Vierschanzentournee. Passion: Sportbusiness. Mit nachhaltiger Leidenschaft rund um die Kreislaufwirtschaft und ohne Scheuklappen: Print, live, digital.