Gen Alpha: heute wandern, morgen programmieren

Corona beschleunigt das Wachstum in zwei Märkten, die gegensätzlicher kaum sein könnten: Smart Toys und Outdoor.
Outdoor-Aktivitäten machen Lust auf Natur und schaffen ein Gegengewicht zur digitalen Stubenhockerei. (© Stocksy)

Er kann sprechen, fahren und tanzen, Bewegungen, Farben und Abstände erkennen und auf Ansprache reagieren – Vernie, der 27 Zentimeter große Roboter von Lego. Mit rund 170 Euro ist der vielseitige Spielkamerad nicht ganz billig, aber dafür lernen die Kinder auch gleich, wie man Spielzeugroboter über eine App programmiert und steuert.

Der Gen Alpha fällt das nicht allzu schwer. Sie wächst nicht nur mit dem Smartphone auf, sondern auch mit dem Internet of Things. Seit über zehn Jahren tummeln sich sogenannte Smart Toys in den Kinderzimmern, die über WLAN oder Bluetooth gesteuert werden und häufig über künstliche Intelligenz (KI) verfügen. Ob sprechende Puppen, lernfähige Teddybären oder Smartphone-gelenkte Autos – das Spektrum wird immer größer. Sogar in den Schulen haben Smart Toys als Lehr- und Lernwerkzeug Einzug gehalten. Der Merge Cube etwa ermöglicht dreidimensionale Visualisierungen. Kombiniert mit einem VR-Headset lassen sich über den Würfel Erdschichten analysieren oder Frösche sezieren.

Wachstumsmarkt Smart Toys

Vor allem neue Möglichkeiten der KI und Technologien wie VR und AR sorgen dafür, dass Smart Toys als interessanter Wachstumsmarkt gelten. Große Spielzeughersteller wie Lego, Mattel, Hasbro, Playmobil und Sega Toys, aber auch Spezialanbieter wie LeapFrog und Pillar Learning mischen mit. Das britische Marktforschungsinstitut Juniper Research geht davon aus, dass der weltweite Umsatz mit interaktivem Spielzeug im nächsten Jahr 18 Milliarden US-Dollar erreichen wird – dreimal so viel wie im Jahr 2018.

Ähnlich optimistisch sind die amerikanischen Marktforscher von Grand View Research: Sie gehen von einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 16,5 Prozent aus. Damit soll der Weltmarkt für Smart Toys 2028 rund 34 Milliarden US-Dollar schwer sein. Die größten Marktanteile verbuchen die USA, das stärkste Wachstum wird in Asien erwartet. Zur Einordnung: Der globale Gesamtumsatz mit physischem und digitalem Spielzeug lag laut Grand View Research 2020 bei 275 Milliarden US-Dollar.

Datenschutz bremst Marktdynamik

Gebremst wird die Marktdynamik, vor allem in Europa, von Datenschutzbedenken. Als Mattel 2015 mit Hello Barbie eine Puppe vorstellte, mit der sich Kinder unterhalten können, stieß das Konzept auf Skepsis. Denn stellen die Kinder eine Frage, wird in der Cloud eine passende Antwort aus dem Gesamtbestand ausgewählt. Alle Fragen und Antworten werden gespeichert, um die Dialogqualität zu verbessern.

In den deutschen Medien war von einer „gruseligen Abhörpuppe“ und vom „Ende der Kindheit“ die Rede – kein Wunder, dass Hello Barbie hierzulande nicht in die Läden kam. Noch mehr Bedenken gab es 2017 bei der Puppe My Friend Cayla vom britischen Spielzeughersteller Genesis. Sie wurde von der Bundesnetzagentur in Deutschland verboten, weil sie eine Sendeanlage darstelle, die als solche aber nicht zu erkennen war. Zudem hatte die Puppe eine ungeschützte Bluetooth-Verbindung zu einer Smartphone-App.

„Bei ungesicherten Bluetooth-Schnittstellen oder Internetverbindungen ist es denkbar, dass unbefugte Dritte sich in die Systeme hacken und beispielsweise über interaktive Funktionen Kontakt mit den Kindern aufnehmen“, erklärt Ayten Öksüz, Referentin für Datenschutz und Datensicherheit bei der Ver­braucher­zentrale NRW. Zudem sei es bei Internet-vernetzten Spielzeugen unter anderem möglich, dass Hersteller Daten über das Kind sammeln.

Zwar haben viele Spielzeugmarken mittlerweile problematische Smart Toys wieder vom Markt genommen. Dennoch bleibt das Problem virulent: Das EU-Parlament hat die EU-Kommission im Februar zur Nachschärfung der Spielzeugrichtlinie von 2009 aufgefordert. Unter anderem empfehlen die Parlamenta­rier, dass die Hersteller Sicherheitsmechanismen gegen Datenmiss­brauch direkt in die Produkte einbauen sollen.  

Mit Smart Toys gegen den Fachkräftemangel

Doch bei aller Datenschutzskepsis haben die Hersteller von Smart Toys ein gewichtiges Argument auf ihrer Seite: Sie werben gezielt damit, dass sich die Kinder frühzeitig für die Unterrichts- und Studienfächer des sogenannten MINT-Bereichs begeistern lassen, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Gerade hier herrscht bekanntlich ein eklatanter Nachwuchsmangel – das digitale Spielzeug erfüllt also eine gesellschaftliche Aufgabe.

„Wir entwerfen und kreieren Lego MINT-Spielzeuge, weil wir glauben, dass Neugier, Spaß und Kreativität wichtige Triebkräfte sind, um Kinder und Erwachsene für Wissenschaft zu begeistern“, heißt es zum Beispiel bei Lego, das unter anderem den programmierbaren Roboter Vernie im MINT-Programm hat. Im englischsprachigen Bereich schreiben sich die Anbieter entsprechend STEM auf die Fahnen (Science, Technology, Engineering und Mathematics), manchmal kommt auch noch „Art“ für die kreative Komponente hinzu, dann spricht man von STEAM.

World Economic Forum für digitale Spielzeuge

Zu den Fürsprechern der digitalen Spielzeuge gehört auch das World Economic Forum, das sich vor allem für die frühzeitige Beschäftigung von Kindern mit KI starkmacht. Daher wurden im vergangenen Jahr im Rahmen des „Generation AI“-Projekts die Smart Toy Awards ins Leben gerufen, die zukunftsweisende, aber gleichzeitig auch verantwortungsbewusste Innovationen auszeichnen. Zu den Gewinnern des ersten Jahrgangs gehören ein intelligenter App-gesteuerter Spielzeugzug von Intelino, Vidiyo, eine Software zum Erstellen von Musikvideos für Kinder, und Roybi, ein KI-gesteuerter Tutor, der den Kindern Mathematik, Technologie sowie Englisch, Mandarin und Spanisch beibringt.

Als besonderen Katalysator für den Smart-Toy-Markt haben die Marktforscher die Pandemie identifiziert – mehr Zeit zu Hause, mehr Zeit zum Spielen. Corona sorgt aber auch gleichzeitig für einen Gegentrend, der ebenfalls einen interessanten Wachstumsmarkt für die Gen Alpha befeuert: Outdoor-Produkte und entsprechende Freizeitangebote. Die stehen bislang nicht so hoch im Kurs, denn: „Kinder und Jugendliche halten sich seit Anfang der Nullerjahre deutlich weniger unorganisiert im Freien auf“, hat der Sportwissenschaftler Alexander Woll, Professor am Karlsruher Institut für Technologie, ermittelt. „Man spielt nicht mehr spontan mit Nachbarskindern, macht keine Streifzüge durch die nähere Umgebung und klettert nicht mehr auf Bäume.“ Schuld daran seien unter anderem die Ganztagsschule und Helikoptereltern, die den Alltag ihrer Kinder minutiös durchplanen.

Die Gen Alpha entdeckt die Natur

Für eine Gegenbewegung könne jedoch die Pandemie sorgen: Homeoffice, Homeschooling und pausierende Vereine haben im ersten Lockdown kurzfristig dazu geführt, dass sich Kinder wieder mehr draußen aufhielten. „Wir konnten eine kurze Renaissance der Straßenkindheit beobachten“, sagt Woll. Aber auch die Eltern waren mit von der Partie: Corona sei ein regelrechter „Booster“ für Familienaktivitäten im Freien, so Woll. Dabei erlebten vor allem Outdoor- und Natursportarten einen starken Aufschwung. „Gut möglich, dass das ein nachhaltiger Trend wird“, glaubt Woll.

Ein passender Name bietet sich schon seit einigen Jahren an: „Friluftsliv“ (Freiluftleben) bezeichnet in Norwegen das Erleben der Natur mit allen Sinnen und vor allem mit der ganzen Familie. Friluftsliv ist dort eine regelrechte Bewegung geworden, das Thema soll sogar an Schulen fest verankert werden. Damit könnte sich nach der Hygge-Gemütlichkeit ein zweiter skandinavischer Trendbegriff etablieren. Unter dem Hashtag #friluftsliv sind auf Instagram schon über 1,3 Millionen Beiträge abrufbar.

Kinder aus Mittel- und Oberschicht entdecken Outdoor-Trend

Allerdings: Das Phänomen zieht sich laut Woll nicht quer durch die Gesellschaft, sondern zeigt sich vor allem in Milieus mit mittleren und höheren Einkommen. Das beobachtet auch Ulrich Wittmann, der online Kindertragen für Wanderungen vermietet und auf seinem Blog Kinderoutdoor.de Produkte und Freizeitangebote für Kinder vorstellt: „Es sind vor allem Eltern aus der Mittel- und Oberschicht, die dafür sorgen, dass ihre Kinder Outdoor-Erfahrungen machen.“ Dies sei dann eine Facette in einem breit gefächerten Anforderungskatalog an die Kinder, der von Fremdsprachen bis Geigenunterricht reiche. „Diese Kinder werden oft völlig übertrieben ausgerüstet, wenn es in die Natur geht“, so Wittmann. Am anderen Ende des sozialen Spektrums sei das Interesse dagegen häufig gleich null: „Viele Kinder aus weniger gehobenen Schichten sind schon mit einer einfachen Wanderung überfordert.“

So agieren Schöffel, Vaude und Jack Wolfskin

Outdoor-Ausstatter spüren bereits einen Aufwärtstrend: „Die Investitionsbereitschaft in Produkte auch für Kinder steigt in vielen Zielgruppen“, sagt Reiner Gerstner, Unternehmensleiter Marketing bei Schöffel. „Allerdings öffnet sich die Schere von Billig-Produkten und hochwertigen Artikeln zunehmend.“ Schöffel bietet seit vielen Jahren Ski-Artikel für Kinder an. Produkte in den Bereichen Outdoor und Bike sollen in den nächsten Jahren folgen. „Outdoor-Aktivitäten dienen als Ausgleich zur steigenden Komplexität der Welt. Hier entsteht ein Trend, der auch die Kinder erreicht, von den Eltern motiviert“, so Gerstner. „Sie werden, wie man so schön sagt, zu Health-Stylern ihrer Kinder.“

Auch die Konkurrenz setzt auf den Nachwuchs: „Aktuell wächst der Kinderbereich bei uns sehr stark, genauso schnell wie auch der Umsatz mit Produkten für Erwachsene“, berichtet Anja Wielath, Senior Product Manager Apparel bei Vaude. „In der Pandemie haben vor allem Artikel rund ums Fahrradfahren deutlich zugelegt.“ Gefragt ist vor allem Funktionskleidung, in der neuen Kollektion laufen vor allem Outdoor-Cordhosen für Kinder sehr gut. „Für uns ist das Kindersortiment aus zwei Gründen sehr wichtig: Zum einen ist es als nachhaltiges Familienunternehmen Teil unserer Strategie, zum anderen können wir als Outdoor-Anbieter die hohen funktionellen Anforderungen der Kinder unter anderem an Strapazierfähigkeit und Wetterschutz perfekt erfüllen“, so Wielath. „Darüber hinaus freuen wir uns natürlich, wenn Kinder unsere Marke frühzeitig kennenlernen.“

Jack Wolfskin sieht die „Youth Range“ ebenfalls als wichtigen Bestandteil des Gesamtportfolios: Für die kommenden Jahre ist ein Ausbau der Kollektion sowie eine stärkere Differenzierung zwischen verschiedenen Altersstufen geplant. Vor allem wasserdichte, gefütterte Jacken machen einen Großteil des Umsatzes aus. „Die Nachfrage nach Kinderbekleidung hat sich in den vergangenen Jahren sehr positiv entwickelt“, sagt eine Sprecherin. „Familienaktivitäten in der Natur rücken wieder mehr in den Vordergrund, egal ob im Sommer oder im Winter.“

Die Outdoor-Ausstatter betonen allerdings auch, dass der Kindermarkt kein einfacher ist: Die vergleichsweise geringen Stückzahlen erhöhen die Produktionskosten pro Artikel. Eltern sind aber kaum bereit, höhere Preise für Produkte zu zahlen, aus denen die Kinder schnell herauswachsen. „Margen sind im Kinderbereich kein strategisches Ziel für uns“, betont daher Schöffel-Manager Gerstner. „Es geht vielmehr darum, First-Love-Brand der Kinder zu sein und frühzeitig Markenbegeisterung aufzubauen.“ Denn eins ist klar: Auch die Gen Alpha wird irgendwann erwachsen.

Dieser Artikel erschien zuerst in der April-Printausgabe der absatzwirtschaft.

(kj, Jahrgang 1964), ewiger Soul- und Paul-Weller-Fan, hat schon für Tageszeitungen und Stadtmagazine gearbeitet, Bücher über Jugendkultur und das Frankfurter Bahnhofsviertel geschrieben und eine eigene PR-Agentur betrieben. 1999 zog es ihn aus dem Ruhrgebiet nach Frankfurt, wo er seitdem über Marketing-, Medien- und Internetthemen schreibt, zunächst als Ressortleiter bei „Horizont“, seit 2008 als freier Journalist und Autor. In der Woche meist online, am Wochenende im Schrebergarten.