Ein weißer Tisch, dahinter eine weiße Kommode, wenig Deko. Die Kameraperspektive ist simpel gehalten: frontal, manchmal ein Blick von oben. Es gibt keinen Schnickschnack, keine Special Effects, kein aufwendiges Setting. Im Fokus stehen nur Sandra und ihre zehnjährige Tochter Hannah. Die beiden spielen ein neues Spiel, dabei werden sie gefilmt. Irgendwas mit einem Affen und einem Nashorn. Das Brettspiel ist bunt, auf dem minimalistischen Tisch knallt es besonders gut. Sandra und Hannah sind auf YouTube seit über sieben Jahren Stars, ihr Kanal hat eine halbe Million Abonnent*innen. Sie sind das, was ihr schnörkelloser Username verspricht: die Spielzeugtester. Ihr Publikum: die Generation Alpha.
Wo früher Fernsehwerbung zwischen Zeichentrickserien in unter zehn Sekunden ein Produkt verkaufen musste, haben die Unternehmen nun mehr Zeit. Zumindest dann, wenn sie ihre Zielgruppe endlich über ein Device erreicht haben. Doch diese Hürde ist höher als früher. Viel höher.
Wer ist diese Gen Alpha?
Den Begriff „Generation Alpha“ prägte der australische Sozialforscher Mark McCrindle schon vor einigen Jahren. Er benutzte ihn zuerst 2008 in einer Online-Umfrage, die er für seine eigene Agentur durchführte. McCrindle ist nicht nur Forscher, sondern auch Unternehmensberater. Die Idee hinter diesem Begriff war fast schon romantisch: Er wollte für diese Generations-Kohorte einen Neustart verbalisieren. Immerhin waren die Buchstaben des lateinischen Alphabets nach Generation Y und Z sowieso aufgebraucht.
Alpha, das klingt nach Aufbruch und Veränderung, nach Führungskraft und Dominanz. Und genau das löste McCrindles Self-Fulfilling Prophecy auch ein: Die Generation Alpha startete im Jahr 2010, die meisten gehen also in diesem Moment, in dem Sie diesen Text hier lesen, in Kita, Kindergarten oder Grundschule. In jenem Jahr, in dem die Alphas begannen, die Welt für sich zu erobern, brachte Apple sein iPad auf den Markt, Instagram wurde gegründet und das Oxford Dictionary wählte „App“ zum Wort des Jahres. Heute meint man mit dieser Kohorte alle Geburtsjahrgänge bis 2025, ein massiver Teil ist also noch gar nicht geboren.
Bis dahin wird die Gen Alpha die zahlenmäßig größte Generation sein, die je auf diesem Planeten gelebt hat: 2,5 Milliarden Menschen. Sie werden alle ganz selbstverständlich mit KI aufwachsen, Kommunikation mit Alexa und Siri wird zum Alltag gehören. Obwohl die Schere zwischen Arm und Reich größer werden wird, sind die meisten wohlhabender und gebildeter als ihre Eltern und Großeltern. Ihre Screen Time wird sich durch den rasanten technischen Fortschritt komplett anders gestalten als die aller Generationen zuvor. Und ihre Kaufkraft? Die ist allein schon durch die Menge an Menschen gigantisch.
Wie erreicht man diese heterogene Bubble?
Nadine Müller-Eckel ist Head of Strategy bei Anomaly in Berlin. Die Creative Company berät am Standort Berlin globale und nationale Unternehmen wie Google, Rimowa, Zalando, TikTok, Nespresso, Sony und L’Occitane en Provence. Auch für Anomaly ist die Generation Alpha bereits eine wichtige Zielgruppe – auch wenn sie mehrheitlich noch über kein eigenes Geld verfügt. Müller-Eckel erklärt das so: „Die Eltern der Alphas, hauptsächlich die Millennials, bekommen später und vor allem weniger Kinder als ihre Vorgängergenerationen. Dementsprechend mehr Geld investieren sie in ihren Nachwuchs, der unter keinen Umständen einen Mangel erfahren soll, sei es für Gesundheit, Kleidung, Spielsachen oder Technik. Insbesondere bei Letzterem denken 58 Prozent von ihnen an ihre Kinder oder besprechen die Anschaffung vorab mit ihnen.“
Die Digitalisierung kommt als verstärkender Faktor hinzu: „Social Media ist shopable. Amazon ist omnipräsent. Der Klick für Eltern ist heute leichter als der Ausflug zum Spielzeugladen damals für Boomer.“ Die Marketingexpertin hat auch beispielhafte Zahlen zur Hand. Sie bestätigt, dass 81 Prozent der Alpha-Kids das Kaufverhalten ihrer Eltern nachhaltig beeinflussen. Konkrete Daten aus den USA und Großbritannien zeigen sogar, dass fast die Hälfte aller 16-Jährigen Zugang zu Amazon Prime hat und damit über Geld verfügt, das rechtlich gar nicht ihr eigenes ist. „Mag sich also das Hierarchieverhältnis von Eltern und Kindern bei der Anschaffung von Dingen auch heute nicht verändert haben, ist der Zugang für Kinder und Teenager durch Social Media und E-Commerce-Portale heute maximal erleichtert“, erklärt Müller-Eckel.
Klar ist, für alles braucht es ein elektronisches Gerät. Das klassische Schaufenster oder der Spielwarenkatalog sind jedenfalls nicht mehr zwingend relevant unter den großen Multiplikator-Kanälen. Simon Schnetzer ist Jugendforscher und beschäftigt sich schon lange mit der Generation Alpha. Er weiß, dass Devices aus so gut wie keinem Haushalt mehr wegzudenken sind: „Kids sind es von klein auf gewohnt, dass sie sich die Aufmerksamkeit mit dem Smartphone ihrer Eltern teilen.“ Das soll nicht unbedingt nach Kritik klingen, sondern die nahtlose Verzahnung dieser Technik mit unserem Alltag zeigen. „Eine direkte Kaufkraft hätten die Alphas nur über ihr Taschengeld. Aber natürlich haben sie indirekt ganz andere Hebel. Sie werden von ihren Eltern an sehr vielen Entscheidungen beteiligt und dürfen früh über Essen, Freizeitgestaltung, Urlaubsziele und natürlich Spielzeuge mitbestimmen. Dadurch formen sie wiederum auch die Präferenzen und Wertekoordinaten ihrer Eltern“, sagt Schnetzer.
Welche Kanäle eignen sich für Marketing?
Nadine Müller-Eckel glaubt, die Gen Alpha ist es gewohnt, uneingeschränkten und schnellen Zugang zu allem zu bekommen, wonach ihr der Sinn steht. „Das hat die Digitalisierung und das Verhalten ihrer Eltern befeuert. Wird ihnen dieser verwehrt, ziehen sie weiter. Das Angebot ist immerhin unerschöpflich.“
Für Marken bedeutet dies, dass Markenbeziehungen in Zukunft fragiler und schneller ersetzbar sein können. Um eine echte Bedeutung im Leben dieser Zielgruppe zu erlangen, bedarf es ihrer Kenntnisse nach also zweierlei fundamentaler Komponenten: „In Zukunft wird es sich kaum noch eine Marke erlauben dürfen, die Themen soziale und kulturelle Verantwortung sowie Nachhaltigkeit auszusparen. Dabei wird es von immenser Bedeutung, transparent und glaubwürdig zu sein. Mehr noch als alle anderen Generationen vor ihnen konsumieren Alphas Marken als Ausdruck ihres Lebensstils.“
Markieren Conscious Consumer heute noch eine privilegierte Bubble, werden sie laut Expert*innen in zehn Jahren die Mehrheit der Kaufentscheidungen treffen. „Marken, die nicht heute schon an einem glaubwürdigen und authentischen Narrativ mit einem echten Beitrag arbeiten, werden morgen als Verlierer dastehen“, stellt Müller-Eckel sachlich fest. Am glaubwürdigsten ist aktuell fraglos eine ganz bestimmte Gruppe: Influencer*innen. Insbesondere solche, die selbst noch Alphas sind. Laut Schnetzer ist das neu: „Zum ersten Mal sind die Entscheidungsgeber*innen im gleichen Alter wie die Konsument*innen.“ Ein immer wichtiger werdender Kanal ist Social Media, darunter die Plattformen YouTube und TikTok. Instagram, Twitch und Snapchat folgen später.
Social-Media-Kanäle sind also für die Generation Alpha nicht nur ein Ort des sozialen, sondern auch des Güteraustauschs. 55 Prozent der 4.000 befragten Alphas in einer Studie des Beratungsnetzwerks Wunderman Thompson möchten grundsätzlich Produkte ihres Lieblings-YouTube- oder -Instagram-Stars kaufen. Ein Viertel aller Alphas treffen ihre Kaufentscheidungen sogar konkret auf Basis der Vorschläge von Instagram-Stars wie Ryan Kaji. Ryan wer?
Keine Sorge, Sie müssen Ryan Kaji nicht kennen, wahrscheinlich sind Sie zu alt. Der Zehnjährige testet und bewertet mit seinen Freund*innen Spielzeug. Er hat auf seinem YouTube-Kanal knapp 32 Millionen Abonnent*innen, seine Filme wurden insgesamt knapp 50 Milliarden Mal gestreamt. Der Grundschüler gehört laut Forbes zu den Top-Verdienenden auf YouTube. Die Marketingexpertin Müller-Eckel betont hier noch mal: „Wenn wir nach China blicken, sehen wir, wie SocialSales für diese noch so junge Generation vermehrt zur Selbstverständlichkeit werden. Und so avanciert ein ursprünglicher Inspirationsort zum ultimativen Verkaufsstandort. Live Sales sind dann eine neue Chance für Marken, Konsumenten in den richtigen Momenten abzuholen und Umsatz, der offline nicht mehr gemacht wird, in Social umzusetzen.“
Wie hat die Pandemie den Markt beeinflusst?
Dass all diese Entwicklungen noch mal an Fahrt aufgenommen hatten, als die Corona-Pandemie für Lockdowns, Schulschließungen und Betreuungschaos sorgte, ist kein Geheimnis. Wie ein Brandbeschleuniger hat das Virus somit indirekt die Umsätze in schwindelerregende Höhe schnellen lassen. Jugendforscher Schnetzer resümiert: „Der Spielzeugumsatz ist 2020 und 2021 massiv gestiegen. Kinder bekamen zwangsläufig mehr Online-Zeit bei Streamingdiensten wie Netflix und Spotify. Viel Geld, das sonst für Urlaub und Essengehen ausgegeben wurde, floss nun in Naherholung und Heim-Entertainment.“
Es gibt kritische Stimmen wie den Psychologen Rüdiger Maas, der Eltern deshalb vorwirft, sie hätten das Elternsein verlernt und würden eine „Generation lebensunfähig“ heranziehen. Mama und Papa, die keinen Bock mehr haben und den Spross deshalb vor dem iPad parken, ein Eltern-Bashing-Klassiker. Darüber hat er zuletzt ein Buch publiziert, dessen wissenschaftliche Methodik im Nachgang zu Recht von der Süddeutschen Zeitung komplett infrage gestellt und faktisch zerlegt wurde. Die alte Mär von „Früher war alles besser“ wird heute schnell durchschaut und als unsinnig entlarvt. Die Journalistin Barbara Vorsamer, die sich eingehend mit dem Abgesang auf die Generation Alpha beschäftigt hat, fasst das kompakt zusammen: „Aber die Alphas wären nicht die Ersten, die zunächst als lebensunfähig beschimpft worden sind und dann lieber die Welt statt sich selbst veränderten.“ Denn genau das ist, was dieser Generation immanent ist: der moralische Kompass, der sie auch im Konsum leitet.
Für Unternehmen bedeutet insbesondere dieser Punkt für die Zukunft, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, um glaubwürdig und kaufbar zu bleiben. Werbebotschaften müssen im Einklang mit den Wertekoordinaten der Alphas sein, zum Beispiel Diversität, soziale und Umweltverantwortung, Qualität über Quantität. Müller-Eckel formuliert daraus eine Faustregel für das übergeordnete Kaufprinzip, die jederzeit auch als guter Claim funktioniert: „Buy less, buy better.“ Sie fügt hinzu: „Firmen werden versuchen, sich Technologien wie künstliche Intelligenz zunutze zu machen, um Spielzeuge und Gadgets noch smarter und werthaltiger zu gestalten. Bestes Beispiel ist das ‚Internet of Toys‘: Devices und Spielzeuge, die mithilfe von KI, Voice Recognition oder anderen Technologien einen edukativen oder sozialen Mehrwert mitbringen.“
Eine Herausforderung wird fluides Beziehungsmarketing sein: „Firmen müssen stufenlose Brand Experiences herstellen, die es Konsument*innen erlauben, hybrid zwischen Metaverse und Offline-Channel zu spazieren, ohne einen Bruch mit der Marke zu erleben.“ Eben das, was Sandra und Hannah in ihrem heimischen Studio, das wie keines aussehen soll, schaffen. Ohne große Effekthascherei spielen sie mit zugesandtem Spielzeug. Vor den Bildschirmen im ganzen deutschsprachigen Raum sitzen derweil Kinder vor ihren Devices und schauen zu. Im besten Fall gehen sie später zu ihren Eltern und sagen: „Ich wünsche mir zum Geburtstag dieses Spiel mit den Affen und den Nashörnern. Das bunte, mit dem Sandra und Hannah im iPad spielen. Kaufst du mir das?“
Dieser Artikel erschien zuerst in der April-Printausgabe der absatzwirtschaft.