Das Wetter präsentiert sich an diesem Gründonnerstag im typischen Hamburger schmuddelgrau – was die Gemütlichkeit bei „Hygge – The Farm“ eher noch fördert. Unter den Glasdächern der ehemaligen Gärtnerei im schicken Ortsteil Nienstedten wird immer noch Gemüse angebaut. Gleichzeitig gibt es einen Hofladen, ein Bistro und ein Café. Die passende Location für zwei Frauen, die sich beruflich mit dem leiblichen Wohl ihrer Kund*innen beschäftigen.
Zum Aufwärmen haben sich beide für einen Cappuccino mit Hafermilch entschieden. Susanne Harring bewundert gleich die professionelle Kaffeemaschine („La Marzocco, der Porsche unter den Kaffeeautomaten. Haben wir vor Kurzem übernommen“). Nach dem ersten Heißgetränk wechseln wir den Platz, verlassen das Café und finden uns plötzlich an einer Bierzelt-Garnitur in einem der Gewächshäuser wieder. Ein Gespräch zwischen Mangold und Radieschen, zu dem dann auch passend die Sonne herauskommt.
Frau Nieland, Frau Harring, sie arbeiten beide in Bereichen, die vom „Coccooning“ während der Corona-Phase profitiert haben. Was ist davon geblieben, was hat sich geändert?
Susanne Harring: Die Abverkäufe von Haushaltsgeräten in dieser Zeit waren exorbitant, weil viele Menschen das Kochen und Backen für sich entdeckt haben. Ich selbst habe damals einen Sauerteig angelegt, der lebt heute noch. Aber das hat sich natürlich geändert. Jetzt versuchen wir, auch in Zusammenarbeit mit Chefkoch, herauszufinden: Was machen die Konsument*innen jetzt anders? Durch die zahlreichen Krisen, mit denen wir konfrontiert sind, hat sich auch die Kundenansprache geändert, darauf müssen wir reagieren.
Christine Nieland: Die Lust am Kochen ist zum Glück ungebrochen, aber heute haben wir die Inflation als großes Thema. Die Menschen achten aufs Geld und suchen bei Chefkoch.de vermehrt Tipps, wie sich günstig und gut kochen lässt oder wie man möglichst viele Mahlzeiten aus einem Wocheneinkauf zubereitet. Was wir – beispielsweise auch im Rahmen unserer Chefkoch-Foodstudie – festgestellt haben: Die Preissensibilität ist zwar hoch, aber oft verbunden mit dem Gedanken des nachhaltigen Kochens und regionalen Einkaufens.
SH: Von diesen Erkenntnissen profitieren wir natürlich auch. Wir verkaufen zwar an den Einzelhandel, müssen aber gleichzeitig auch wissen, was der Konsument oder die Konsumentin mit unseren Produkten macht. Von daher ist es immer ein sehr wertvoller Austausch, die jeweiligen Erkenntnisse gegeneinander zu legen und abzugleichen.
Was wären das zum Beispiel für Erkenntnisse?
SH: Kennen sie „Ugly Food“? Also Obst oder Gemüse, das nicht mehr ganz so taufrisch aussieht, aber immer noch gut verwendet werden kann. Das passt genau zum Thema Nachhaltigkeit. Bei einem Smoothie sehen sie nicht mehr, ob die Banane ein paar braune Flecken hatte. Und in diese Kommunikation steigen wir jetzt verstärkt ein. Nachhaltigkeit bedeutet für uns aber auch, dass unsere Maschinen lange leben. Wir haben gerade von einem Kunden einen Handmixer zugeschickt bekommen, der 45 Jahre lang gute Dienste geleistet hat. Das ist eine tolle Geschichte, die wir auch unseren Mitarbeitenden mit auf den Weg geben können und so zeigen, dass Nachhaltigkeit eben nicht nur ein Lippenbekenntnis ist.
Kennengelernt haben sich Susanne Haring und Christine Nieland im Juni 2022 bei der X-Change. Das ist eine jährlich stattfindende Leadership-Konferenz, veranstaltet von Mission Female, einem Netzwerk für Frauen in Führungspositionen aus unterschiedlichen Branchen. Fun Fact: Beide haben fast zeitgleich in Münster studiert, ohne sich dort zu begegnen. Sie engagieren sich für die Themen Female Empowerment und Diversität und unterstützen aktiv junge Talente, vor allem Frauen, auf ihrem Karriereweg – durch aktives Mentoring im Mentorship-Programm von Mission Female, aber auch intern in ihren Unternehmen.
Sie sind beide CEOs in eher von Männern dominierten Geschäftsfeldern. Haben Sie einen Karriereplan verfolgt?
SH: Die Frage bei der eigenen Karriere sollte nicht sein, „Was ist mein nächster Schritt?“, sondern „Was interessiert mich?“. Ich selbst bin auch nicht den klassisch geraden Weg gegangen. Positionen und Funktionen, die auf dem Papier mehr nach „Sidestep“ aussahen, waren für mich persönlich eine hochinteressante Herausforderung. Während meiner Zeit in Amsterdam konnte ich zum Beispiel mein Schulenglisch enorm verbessern und habe heute noch einen leichten holländischen Akzent. Ich kann viel für mich rausziehen, mich persönlich weiterentwickeln, das ist für mich eine Erkenntnis, die wichtiger ist als der nächste, vermeintlich logische Karriereschritt.
CN: Dem kann ich nur zustimmen – aber man sollte durchaus Ziele haben, so habe ich das jedenfalls immer für mich empfunden. „Ich möchte in den nächsten Jahren eine Führungsrolle übernehmen“, wäre zum Beispiel eine solche Prämisse. Aber da gebe ich Susanne recht, der Karriereplan, den man nur auf dem Papier abarbeitet, den gibt es gar nicht. Und wer zu verbissen plant, der sieht viele Dinge abseits des Karriereweges gar nicht. Ich komme zum Beispiel aus dem Bereich Medien und Marketing und arbeite jetzt für ein sehr technologieorientiertes Unternehmen. Das hätte ich mir am Anfang meiner Karriere gar nicht so vorgestellt, es hat sich aber durch meine Interessen und meine Entwicklung so ergeben und macht mir jetzt wahnsinnig viel Spaß. Mal abzubiegen und seine Komfortzone zu verlassen, ist meiner Meinung nach sehr wichtig.
Christine Nieland ist CEO der Chefkoch GmbH, die zu RTL Deutschland gehört und die digitalen Food-Angebote Chefkoch, Kochbar und Essen&Trinken betreibt. Bei den Mission Female Awards wurde sie 2022 mit dem Preis in der Kategorie „Digitalisierung“ ausgezeichnet. An Susanne Harring schätzt sie „den klugen Blick auf Märkte, die uns beide beschäftigen – und in Zukunft bestimmt auch ihre Wein-Empfehlungen, seit ich im Interview erfahren habe, dass Susanne eine Sommelier-Ausbildung gemacht hat“.
Nach welchen Kriterien stellen Sie neue Mitarbeiter*innen ein? Hat sich ihr Blick auf den Einstellungsprozess geändert?
CN: Was sich bei mir auf jeden Fall verändert hat: die klassischen, durchgetakteten Lebensläufe sind nicht mehr so wichtig wie früher. Ich finde es spannend, wenn jemand mal andere Sachen ausprobiert hat oder auch mal gescheitert ist. Da schaue ich viel offener drauf als noch vor einigen Jahren. Wichtig ist für mich, dass Menschen begründen können, was sie warum gemacht haben. Ich möchte die Motivation, die treibenden Kräfte der Personen verstehen. Und vor einer Einstellung ist wichtig, dass sich die Kandidatin oder der Kandidat mit Chefkoch als Marke und Produkt identifizieren können. Nur dann und wenn ich die entsprechenden Gestaltungsräume gebe, bleibt unser Produkt auch wirklich gut.
Gestaltungsräume geben hört sich gut an, ist aber nicht immer einfach …
SH: Aber nur dann haben sie auch die Lust und Leidenschaft im Team, das Business zu entwickeln und sich Marktanteile zu sichern. Ich habe zum Beispiel Probleme damit, wenn mich jemand nach einer „Jobdescription“ fragt und sein genaues „Framework“ wissen möchte. Macht eure Fehler und lernt daraus, ist für mein Unternehmen wichtiger als keine Entscheidungen zu treffen, um Fehler zu vermeiden und dann Stillstand zu haben. Wir suchen Menschen, die diese Freiräume auch gern in Anspruch nehmen.
CN: Die Freiheiten, unternehmerisch zu handeln, habe ich auch. Das liegt in der Natur der Sache, als digitales Geschäft heißt es bei uns immer test, learn, iterate. Unsere Produkte für die Nutzer*innen und das Geschäftsmodell kontinuierlich weiterzuentwickeln und auszubauen, liegt in unserer DNA.
Susanne Harring verantwortet als Geschäftsführerin die Entwicklung von De’Longhi Deutschland und Österreich und die angeschlossenen Marken Kenwood und Braun Haushaltsgeräte. Christine Nieland ist für sie ein role model in Bezug auf die Vereinbarkeit von Familie und Karriere. „Die Auszeichnung“, findet sie, „hat Christine damals verdient gewonnen“.
Aber wie finden Sie entsprechende Mitarbeiter*innen vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels?
SH: Bei uns haben wir zum Beispiel Englisch als Unternehmenssprache festgelegt. Nur so sind wir auch attraktiv für die Talente aus dem Ausland. Und wir finden unsere Mitarbeiter*innen nicht nur in Deutschland. Wir haben zum Beispiel eine Frau aus der Ukraine eingestellt, eine Spezialistin für Kenwood. Die Kollegen aus der IT kommen aus der Gaza-Region, was uns alle derzeit emotional herausfordert und nicht kaltlässt.
CN: Wir bei Chefkoch haben das Glück, eine Marke mit großer Strahlkraft zu besitzen. Trotzdem ist der Personalmarkt im Tech-Bereich umkämpft und ich überlege, ob wir uns auch für internationale Kolleginnen und Kollegen noch mehr öffnen können, da dies eine große Bereicherung sein kann. Aber es ist natürlich eine Challenge für unsere Mitarbeiter*innen, die bisher ein deutschsprachiges Umfeld gewohnt sind. Wir denken gerade darüber nach, in unserem Tech-Team mit internationalen Freelancern oder Projektteams zu starten. Damit wir konkret lernen, was für die internationalen und deutschen Kolleginnen und Kollegen in der Zusammenarbeit wichtig ist.
SH: Sprache ist glücklicherweise auch nicht mehr das große Problem. Es gibt hervorragende Programme und Tools, die sich für Übersetzungen nutzen lassen. Das muss nicht immer perfekt sein, aber es hilft doch sehr.
CN: Ich finde auch die Idee gut, eher spielerisch ranzugehen und es nicht komplett durchzuprofessionalisieren. Einfach mal anfangen, ausprobieren und lernen.
SH: Ich finde es auch spannend in einem Unternehmen zu arbeiten, das so viele verschiedene Kulturen vereint. Das ist auch aus unternehmerischer Sicht wichtig. Wir haben so viele Krisen und Themen, die auf uns zukommen. Wenn ich da immer mit der gleichen Brille draufgucke, werde ich nicht die richtigen Mittel haben, um diese Krisen zu bewältigen. Unterschiedliche Menschen heißt unterschiedliche Blickwinkel und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten.
Wie wirken sich diese Rahmenbedingungen auf ihre Vorstellungen von Führung aus?
SH: Ich treffe die wenigsten Entscheidungen allein. Mein Leadership-Team ist bewusst divers aufgestellt. Wir kategorisieren unsere Charaktereigenschaften intern in Farben. Ich bin eine Mischung aus rot, also fordernd und nach vorne gehend, und gelb, das steht für kreativ. Daher brauche ich auch „grüne“ Empathiker und „blaue“ Charaktere, die prozessual denken.
CN: Das ist eine grundsätzliche Frage für jeder Führungskraft: Wie eng führe ich und wie stark lasse ich Freiräume? Bei der strategischen Ausrichtung führe ich und trage eine Vision ins Unternehmen. Gleichzeitig lasse ich in der Ausgestaltung eben viel Gestaltungsspielraum. Das funktioniert gut in meinem Team, weil auch wir unterschiedliche Charaktere zusammenbringen. Auch externes Sparring ist immer wertvoll und geht gut über Netzwerke und andere Business Units, aber genauso über Bekannte und Freunde. Ich versuche immer der Gefahr zu begegnen, aus meiner eigenen Erfahrung heraus Dinge zu schnell oder zu eindimensional zu beurteilen.
SH: Meine Branche ist recht konservativ und männerdominiert. Da gibt es eine sehr klassische Sicht auf Führung. Ich finde aber, nur durch unterschiedliche Ansichten und Meinungen sind wir gewappnet für die Herausforderungen der Zeit. Das bedeutet aber ein neues Managementbild. Aber, das musste ich auch lernen: ein diverses Team zu führen, ist schon eine besondere Aufgabe.
CN: Im Tech-Bereich gibt es in den letzten Jahren deutlich mehr Frauen, auch in Führungspositionen. In der Branche gibt es naturgemäß mehr Wandel und eine höhere Veränderungsbereitschaft und -geschwindigkeit. Aber es bleibt eine unserer Aufgaben, Frauen mehr Lust auf Führungsverantwortung zu machen. Da müssen wir dranbleiben.
SH: Aber das fängt von oben an. Bei uns haben wir mittlerweile eine Frauenquote von 50 Prozent. Entsprechend ist der Auswahlprozess, bei dem Männer und Frauen gleichermaßen die Bewerberinnen und Bewerber beurteilen. Dadurch ergeben sich unterschiedliche Sichtweisen – und Gespräche, die vieles auflösen und relativieren.
Vom Menschen zur Maschine. Wie wirken sich die Diskussionen um KI auf ihr Geschäft aus? Da dürfte der Einfluss bei Chefkoch größer sein als bei De’Longhi, oder?
SH: Ganz und gar nicht. Das Thema ist bei uns groß auf dem Dreijahresplan. Warum? Ich bin überzeugt, dass sich die Arbeit in der Zukunft verändern wird. Wenn wir unsere Fachkräfte mit stupider Arbeit belasten, dann werden sie nicht lange bei uns bleiben. Und außerdem ist diese Ressource dann auch zu teuer. Bei uns gibt es noch viel zu viele Standardtätigkeiten. Die identifizieren wir gerade und schauen, was wir wie durch Tools und KI ersetzen können. Eine Anwendung wäre zum Beispiel, die Bildmaterialien aus dem Headquarter für den jeweiligen Markt per KI zu adaptieren. Natürlich dürfen wir Brad Pitt nicht retuschieren. Aber an den Produkten und Settings eben schon. Und mit einem Retail-Partner arbeiten wir an einem per KI verbesserten Forecast.
CN: Für Chefkoch kann ich sagen: KI ist schon lange da. Im Bereich Data arbeiten wir zum Beispiel mit Algorithmen, die auf Künstlicher Intelligenz basieren, und liefern bei Rezept-Tipps und Empfehlungen, die wir speziell auf Nutzer*innen zuschneiden. Im Moment beschäftigen wir uns viel mit generativer KI, die Inhalte erzeugen und ergänzen kann. Aktuelles Beispiel: Wir haben zahlreiche Videos, in denen man die Zubereitung eines Gerichtes sieht. Die sind allerdings ohne Ton. Mittlerweile ist das Thema Ton oder Text Overlay aber sehr relevant. Mithilfe einer KI und Text to Voice lassen sich diese Videos ansprechend nachvertonen. Da hilft die KI, Inhalte mit Mehrwert anzureichern.