Das Frankfurter Museum für Kommunikation ist der ideale Ort für das erste Beschnuppern der beiden Agenturgrößen. Obwohl Franziska von Lewinski seit Januar 2021 als CEO der Syzygy AG vorsteht und Marco Seiler die Agenturgruppe 1995 gegründet und bis 2016 als CEO geführt hat, kannten die beiden sich bislang nicht persönlich. Beim Shooting zwischen Postkutsche, Nieren-TV-Tisch und „Knochenhandy“ – und bei hochsommerlichen Außentemperaturen – bricht das Eis schnell. Ins Schwitzen kommen nur die Fotografen, die die beiden immer wieder vom Reden abhalten und in Szene setzen müssen. Das anschließende Interview ist entsprechend lebhaft.
Frau von Lewinski, vor diesem Interviewtermin kannten Sie sich nicht persönlich. Was haben Sie
vom heutigen Treffen erwartet?
Franziska von Lewinski: Zunächst einmal kennt man Marco ja aus der Branche, ich hatte also zumindest ein Bild von ihm vor Augen. Aber ich habe mich im Vorfeld des Interviews auch ein bisschen umgehört, und alles, was mir berichtet wurde, hat sich bisher bestätigt.
Was hat man Ihnen denn über Marco Seiler erzählt?
von Lewinski: Er wurde mir beschrieben als charmant, guter Gastgeber und als jemand, der für ein tolles menschliches Miteinander steht, für das er auch innerhalb der Syzygy Gruppe immer wieder gesorgt hat. Ich habe nichts wirklich Kritisches über ihn gehört.
Und Sie, Herr Seiler, was haben Sie von Franziska von Lewinski erwartet?
Marco Seiler: Ich hatte sehr positive Erwartungen. Schon weil ich auf LinkedIn den einen oder anderen Post von ihr verfolgt habe. Ein Post ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Darin hat sie auf sehr charmante Art und Weise eine Brücke zwischen Frau und Mann geschlagen.
von Lewinski: Du meinst den Post zum Internationalen Frauentag 2021?
Seiler: Ja, genau. Und da bekam ich den Eindruck, dass man bei dir nicht gleich als Sexist verschrien wird, wenn man mal das generische Maskulinum benutzt. Es gibt in diesem Punkt ja mittlerweile teils sehr extreme Positionen in unserer Branche.
von Lewinski: Was ich an unserem Treffen heute besonders toll finde: Marco kennenzulernen ist für mich eine tolle Gelegenheit, um auch etwas über die Wurzeln der Syzygy Gruppe zu erfahren. Ich bin neugierig auf seinen Blick auf die Branche und auch auf das Unternehmertum, denn ich habe eigentlich immer davon geträumt, Unternehmerin zu sein.
Seiler: Um es mit einem Buchtitel zu sagen, den ich kürzlich gelesen habe: „Es ist nie zu spät für alles“.
Bevor Sie jetzt gleich beschließen, gemeinsam eine neue Agentur zu gründen: Wie steht es Ihrer Meinung nach um die Zukunft der Agenturen?
Seiler: Die starke Zunahme der Medienkanäle hat vieles auf den Kopf gestellt, weil das Geschäft komplexer geworden ist. Seit Jahren schwappt deshalb ein großes Jammern durch die Branche. Dabei haben sich die Kernprinzipien für alle Professional Services Companies, zu denen ja auch die Agenturen zählen, nicht verändert. Man kann nach wie vor erfolgreiche Unternehmen aufbauen. Adaptierfähigkeit und der Glaube an eine positive Zukunft sind gefragt.
Frau von Lewinski, haben Sie den Glauben?
von Lewinski: Sogar die Gewissheit. Ich bin jetzt seit über 20 Jahren auf Agenturseite und habe wirklich jeden Tag davon genossen. Die Vielfalt, die Abwechslung, die Dynamik und der Ideenreichtum in Agenturen sind großartig. Was ich weniger mag: dass wir alle über die Zukunft von Agenturen spekulieren. Entscheidend ist doch, was wir heute mit dem Blick nach vorn schaffen.
Seiler: Das sehe ich genauso. Es gibt allerdings schon einen riesigen Professionalisierungsdruck in der gesamten Branche. Und der entscheidende Punkt für mehr Wachstum heute ist: Wer kann den größten Magnetismus für Humankapital erzeugen?
Sie meinen den viel beklagten „War for talents“, laut GWA mittlerweile der größte Wachstumshemmer für Agenturen.
Seiler: Der ist nicht neu, aber nun ins Zentrum gerückt: Wer hat die größte Anziehungskraft für Talente? Wer entwickelt und fördert sie am besten? Wer hat genug Durchlässigkeit, die schnelle und gute Karrieren ermöglicht? Ist man also in der Lage, Führungskräfte zu entwickeln, oder ist man nur ein Ausbildungsbetrieb für andere?
von Lewinski: Humankapital ist wirklich ein ganz schreckliches Wort. Und ich kann auch Human Resources nicht leiden. Mitarbeitende sind weder Kapital noch Ressourcen, sondern Menschen.
Seiler: Humankapital mag ich. Es macht Unternehmern deutlich: Menschen sind mein Kapital.
von Lewinski: Aber zu deinem anderen Punkt: Durchlässigkeit brauchen wir längst nicht mehr nur in Richtung Seniorität und Führungskraft. Immer mehr Leute wollen zwar Karriere machen, aber nicht unbedingt führen. Deswegen ist für uns die individuelle Förderung von Fachkarrieren wichtiger denn je. Aber so oder so stimmt es: Der limitierende Faktor für Wachstum sind derzeit ganz klar die Menschen.
Und die Lösung für alles heißt New Work?
von Lewinski: Nicht nur, aber auch. Corona hat viel durchgeruckelt. Plötzlich sind Homeoffice und Remote Work gesellschaftsfähig geworden. Das bringt uns Agenturen völlig neue Chancen. Wir merken: Je flexibler und transparenter die Organisation und unsere Arbeitsmodelle werden, desto mehr sinkt die Fluktuation, desto attraktiver sind wir als Arbeitgeber.
Franziska von Lewinski setzt für Syzygy auf größtmögliche Arbeitsflexibilität. Sie sagt: „Wir sind dezentral aufgestellt, das Board gibt den Standorten nichts Pauschales vor.“ Bei ihr gibt es kein „One size fits all“. Marco Seiler hingegen warnt: „Das Prinzip Freiheit ist wunderbar. Aber nicht jede liberale Haltung deckt sich mit der Verantwortung, die Arbeitgeber für das Wohlbefinden von Arbeitnehmern wahrnehmen müssen.“
Syzygy selbst agiert innerhalb der Agenturgruppe sehr unterschiedlich.
von Lewinski: Ja, und das verschafft uns Vorteile. Es gibt Standorte mit einem 100-Prozent-Remote-Modell, es gibt hybride Modelle mit festen Teamtagen und es gibt völlig flexible Modelle.
Seiler: Ich sehe in dieser Entwicklung nicht nur Gutes, in vielen Agenturen sinkt die Fluktuationsrate nicht. Ich habe in den letzten Jahren Psychologie studiert und mich dabei intensiv mit Themen wie Homeoffice, Mitarbeiterführung im virtuellen Kontext und Stressbewältigungsstrategien der Generation Y beschäftigt. Mein Fazit: Ich habe die große Befürchtung, dass diese „Macht doch, was und wo ihr wollt“-Arbeitsmodelle und der Homeoffice-Hype nach hinten losgehen können.
Inwiefern?
Seiler: Wir beschäftigen uns zu wenig mit den Schattenseiten von Homeoffice. Anscheinende Arbeitszeit- und Arbeitsplatzautonomie führt nicht automatisch zur Glückseligkeit. In der Praxis zeigt sich häufig, dass die Mittagspausen kürzer und die Arbeitstage länger werden. Ausschließliches Homeoffice führt besonders bei jüngeren Singles in der Großstadt zur Vereinsamung. Das zeigen viele Studien. Diese Zielgruppe fühlt sich häufig sozial isoliert und tut sich mit der Entgrenzung von Arbeit und Privatem schwer. Menschen verkümmern, was zu einem Verlust von sozialer Kompetenz führt.
Sie übertreiben.
Seiler: Ich glaube nicht. Das ist zum Beispiel ein Grund, warum Apple, Google und auch Facebook jetzt mit viel mehr Druck die Leute wieder in die Büros zurückholen.
Oder weil CEOs wie Elon Musk den eigenen Leuten nicht vertrauen und fürchten, dass die Arbeitsleistung zu Hause erheblich nachlässt. Was ist Ihr Plädoyer?
Seiler: Mein Plädoyer ist: Unternehmen müssen ihre Haltung überdenken. Komplette Narrenfreiheit wird besonders jungen Menschen nicht guttun. Solange es die Pandemie zulässt, sollten junge Menschen mindestens 50 Prozent ihrer Arbeitszeit in den Offices verbringen. Das wird die Erlebnisqualität von Arbeit und Wohlbefinden fördern. Das sage ich ganz bewusst, auch wenn ich dafür vielleicht einen Shitstorm ernte.
Frau von Lewinski: Übertreibt Marco Seiler?
von Lewinski: Ich finde Marcos wissenschaftliche Erkenntnisse interessant und wichtig, um für die Praxis die richtigen Schlüsse ziehen zu können. Aber ich komme ja nun aus der Praxis und ich würde das Thema gerne anders aufrollen. Durch Corona haben wir die große Chance, Arbeit anders zu organisieren, als wir sie jahrzehntelang kannten. Und diese sollten wir nutzen. Schon allein weil die neuen Arbeitsmodelle sehr viel mehr Diversität und größere Chancengleichheit für alle ermöglichen. Aber natürlich müssen wir dabei auch noch einiges lernen. Wie funktioniert Homeoffice? Wem tut es gut? Was können wir tun, damit es niemandem schadet? Und so weiter. Da müssen wir noch genau hinschauen. Mein Plädoyer wäre deshalb: Lasst uns jetzt zusammen neue Wege gehen – und erst dann daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Bislang haben wir in der Syzygy Group de facto jedenfalls keine Verschlechterung in Effizienz, Effektivität und Qualität bemerkt. Wir müssen allerdings die Kultur im Blick behalten. Es besteht die Gefahr, dass sie darunter leiden könnte.
Gerade für Agenturen ist die richtige Kultur nicht gerade unwichtig. Woran merken Sie, dass Syzygy die Kultur abhandenkommt?
von Lewinski: Ein Punkt ist: Die Beziehungen der Mitarbeitenden untereinander sind teils nicht mehr so stark. Kultur lebt ja von persönlichen Begegnungen und Erlebnissen. Operative Arbeit kann man wunderbar von zu Hause machen. Für manches müssen wir aber unbedingt zusammenkommen. Wir Menschen sind soziale Wesen.
Seiler: Ja, da bin ich zu 100 Prozent bei dir. Es braucht dringend wieder mehr persönliche Begegnungen.
Persönlich glaubt Franziska von Lewinski nicht an Work-Life-Balance, sondern an Work-Life-Integration. Sie sagt: „Für mich ist wichtig, dass alles gut zusammengeht – für die Syzygy Gruppe, meine Familie und mich persönlich.“ Marco Seiler sind mittlerweile auch Momente der Distanz zur Profession wichtig. Nach Jahren des Übens kann er das Handy im Urlaub nun auch mal ausgeschaltet lassen.
Trotzdem machen aber auch Sie, Herr Seiler, aus dem Remote-Hype gerade ein Geschäft. Seit Juli sind Sie Geschäftsführer von Vicoland, einer sogenannten Human Cloud, die virtuell arbeitende Freelancer an Unternehmen und Agenturen vermittelt. Wie passt das zusammen?
Seiler: Man muss das differenziert betrachten. Immer mehr erfahrene Fachkräfte arbeiten als Freiberufler. Heute rund viermal so viele wie vor 20 Jahren. Vicoland vermittelt keine singulären Freelancer, sondern virtuelle Teams, bestehend aus zwei bis acht Experten. Zudem sind die Mitglieder einer „Vico“ überwiegend Menschen um die 40 Jahre, die sich sehr bewusst und nicht erst seit Corona für die Selbstständigkeit entschieden haben. Meine Tätigkeit bei Vicoland steht für mich somit nicht im Widerspruch, die Schattenseiten von Remote Work deutlich zu machen.
Überzeugt Sie das, Frau von Lewinski?
von Lewinski: Ich finde spannend, dass Vicoland die Freelance-Vermittlung weiterspannt. Der Markt ist dafür da.
Also sind Human Clouds auch eine Lösung für Syzygy im „War for talents“?
von Lewinski: Wenn man von dem schrecklichen Begriff einmal absieht, sind Human Clouds natürlich ein potenzieller Partner, um unsere Teams zu skalieren. Freelancer*innen sind Teil unserer Kultur und wichtig, um Peaks abzufangen. Problematisch wird es nur, wenn man als Agentur auch das Grundrauschen dauerhaft über sie abfangen muss.
Müssen Sie gerade auch das Grundrauschen mit Freelancern abfangen?
von Lewinski: Zeitweise, an der einen oder anderen Stelle. Die Syzygy Gruppe wächst gerade sehr rasant im zweistelligen Bereich.
Letzte Frage: Nachdem das Kennenlernen jetzt offenbar ganz gut gelaufen ist – werden Sie beide sich wiedersehen?
von Lewinski (lacht): Ich hoffe. Ich hätte durchaus noch ein paar Fragen an Marco.
Seiler: Ich würde mich sehr freuen. Ich wünsche Franziska und Syzygy alles Glück der Welt.