Tim steht vor der Filiale und grüßt herzlich. Er gehört zu den erfahrenen Auszubildenden der Targobank. Nach einer kurzen Vorstellung bittet er, ihm zu folgen. Gemeinsam geht es ins Foyer. Man passiert die EC-Automaten und erreicht nach wenigen Metern den Empfang. Kurz darauf erteilt Tim eine Aufgabe: „Hole dir deine Arbeitssachen von Maria am Empfang ab und komme danach wieder zu mir.“
Was etwas unwirsch klingt, ist in diesem Fall normal: Denn weder Tim noch Maria existieren. Sie sind Figuren in einer Spielsimulation im Stile der Gameboy-Klassiker Legend of Zelda oder Pokémon. Die Simulation dient jungen Talenten als digitales Praktikum: Spielerisch sollen sie Aufgaben lösen und so Erfahrungen in der Bankenwelt sammeln. Doch für die Targobank ist es mehr als nur ein Spiel: Sie möchte sich damit jungen Menschen als attraktiver Arbeitgeber präsentieren. Das kann gerade in Zeiten des Fachkräftemangels ein wichtiger Wettbewerbsvorteil sein.
Lean Ocean ist die Firma, die hinter dem digitalen Praktikum steckt. Das Start-up aus Münster bietet Unternehmen Lösungen für ihre Nachwuchsprobleme. „Wir wissen, dass sehr viele junge Menschen sich zwar jede Menge Stellenangebote ansehen, diese aber eben nicht richtig lesen“, sagt Stephan Egbringhoff. Er gehört zu den Mitgründern des Anfang 2019 gestarteten Unternehmens. „Wir haben uns deshalb gefragt: Wie können wir junge Leute besser aktivieren?“ Gemeinsam entwickeln die Münsteraner die Idee des spielbaren Praktikums und pitchen diese vor mehreren Kunden. Die Targobank und die Sparkasse Münsterland Ost sind begeistert und geben die Games in Auftrag.
Recruiting: Dopamin-Spritzen für junge Talente
Die Grundidee von Recruiting Games ist es, dem Unternehmen ein Zeitfenster zu geben, in dem es Talente von sich überzeugen kann. Nachwuchssorgen und die Schwierigkeiten im Recruiting haben sich zu einem der drängendsten Probleme für Arbeitgeber entwickelt. Mithilfe solcher Games steuert das „Online-Recruitainment“ gegen. Um die Aufmerksamkeit der Zielgruppe zu wecken, steht der Spaßfaktor im Mittelpunkt.
In den Games können sich die Nutzer*innen selbst reflektieren, spielerisch ihren Blick in die Unternehmenswelt und -kultur werfen und den Arbeitsalltag kennenlernen. Das kann die Motivation für eine Bewerbung steigern und falsche Erwartungen entkräften. „Mit Recruiting Games kann man Talente niedrigschwellig erreichen und sie mithilfe von Storytelling und Dopamin-Spritzen von dem Unternehmen überzeugen“, so Egbringhoff.
Obwohl Gaming zu den am weitesten verbreiteten Freizeitaktivitäten zählt, setzen viele Unternehmen noch auf klassische Stellenanzeigen oder auf Imagefilme, um Nachwuchs anzuwerben. Wieso? „Es existieren diverse Gründe, warum bislang nur wenige Unternehmen die Instrumente des Online-Recruitainments und des Recruiting Games in ihre Arbeitsabläufe integriert haben“, sagt Anna Löchner. Die Professorin an der Hochschule für angewandtes Management forscht und lehrt zu den Themen Marketing und Management im E-Sports-Sektor. Viele Unternehmen würden sich nicht an innovative Ansätze beim Recruiting herantrauen oder diese gar nicht kennen.
„Der Versuch, neue Wege in einer bereits etablierten Struktur zu beschreiten, gestaltet sich stets als herausfordernd. Ebenso eine Rolle spielen könnten mangelnde Erfahrungen im Umgang mit neuen digitalen Werkzeugen oder finanzielle Einschränkungen bei der Entwicklung solcher Lösungen“, so Löchner. Dennoch zeichne sich ein positiver Trend ab, sagt sie, eine wachsende Anzahl von Unternehmen sei offen dafür, solche innovativen Methoden zu erkunden. „Ziel ist es, potenzielle Bewerber*innen anzusprechen und gleichzeitig das Arbeitgeberimage zu stärken. Daher ist es durchaus wahrscheinlich, dass die Nutzung von Online-Recruitainment und Recruiting Games in der Zukunft weiter zunehmen wird.“
Gamification fördert Chancengleichheit
Die Einsatzmöglichkeiten beim Online-Recruitainment sind vielfältig. So benötigt man für Recruiting Games keine App, Unternehmen können sie auf ihren Websites leicht einbinden und für mehr Involvement bei jungen Talenten sorgen. „Von diesen Spielen lassen sich auch kurze Filmsequenzen über Social Media zeigen“, sagt Egbringhoff. Das kann für Irritation bei jungen Talenten sorgen – und damit für Aufmerksamkeit. „Da gibt es eine Fallhöhe zwischen dem Oldschool-Grafikdesign des Spiels und dem Namen Sparkasse. Da bleibt man eher hängen.“
Der Gamification-Ansatz kommt aber nicht nur bei der Ansprache von jungen Menschen zum Einsatz. Auch in der Auswahl und Bewertung der Kandidat*innen löst der spielerische Umgang mit Aufgaben den oftmals als monoton empfundenen Bewerbungsprozess ab. Beispielsweise lassen sich logisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen oder Soft Skills unverfälscht überprüfen. So ist es möglich, Bewerber*innen auf verschiedenen Ebenen zu evaluieren und eine ihren Fähigkeiten entsprechende Position im Unternehmen zu finden.
Das fördere zudem die Chancengleichheit, sagt Löchner. Denn dieser Ansatz gewährleiste, dass sämtliche Bewerber*innen genau die gleichen Möglichkeiten erhielten, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Erscheinungsbilds oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit.
Nicht nur HR profitiert von Gamification, sondern auch andere Unternehmensbereiche. Beispielsweise lassen sich die Kommunikation der Bewerber*innen und ihre Zufriedenheit mit dem Recruitingprozess mithilfe von In-Game-Kommunikation analysieren. „Immerhin bewegen sich die Bewerber*innen in einer entspannten und ihnen oftmals vertrauten Umgebung, wodurch es ihnen vermutlich leichter fällt, ihre Meinung frei zu äußern“, so Löchner.
Auch Egbringhoff sieht weiteres Einsatzpotenzial für Gamification: „Man kann Spiele auch in Schulungen oder Onboarding-Prozesse integrieren.“ Doch nicht alle Unternehmen seien wirklich offen für Veränderungen. „Da gibt es die Unternehmen, die verstanden haben: ‚Es geht nicht darum, was uns gefällt. Wir müssen uns anpassen.‘ Andere haben die Zeichen der Zeit leider noch nicht erkannt.“ Vor allem die Industrie tue sich schwer mit dem Spieleansatz. „Ganz besonders das Baugewerbe, obwohl man hier richtig coole Sachen machen könnte.“ Im B2C-Bereich und im Bürosektor sei man dagegen sehr offen, so Egbringhoff.