von Doris Stempfle
Transparenz ist gefragt. Transparenz rund ums Thema Coaching. Was ist Coaching, was kann es bewirken, wo verläuft die Trennlinie zu anderen Beratungs- und Trainingsmethoden? Für Verwirrung sorgen leider auch die Coachingverbände, die wie Pilze aus dem Boden schießen und sich gegenseitig das Leben schwer machen und in gegenseitigen Schuldzuweisungen ersticken: Jeder glaubt als Gralshüter der allein selig machenden Coachingmethode „sein“ Coachingverständnis verteidigen zu müssen.
Hinzu kommt die Verwässerung des Begriffes. So stellt der Kollege Ulrich Dehner in dem Weiterbildungsmagazin „managerSeminare“ (Heft 131, S. 46 ff.) die Übereinkunft in Frage, in einem Coaching dürfe der Coach keine Ratschläge geben, sondern nur Hilfe zur Selbsthilfe. Die Begründung: Jeder habe doch schon einmal etwas durch fremde Ratschläge und Hinweise dazugelernt – warum also sollte es nicht auch im Coaching gestattet sein, Ratschläge zu geben? Meine Antwort ist einfach: Weil es sich dann nicht mehr um ein Coaching handeln würde, sondern um eine Beratung.
„Back to the roots“
Natürlich ist die Diskussion, was Coaching sei und welche Methoden es umfasse, zunächst einmal richtig. Schließlich will eine ganze Branche davon leben. Die Diskussion hat nur einen Haken: Sie führt zu Irritationen und Missverständnissen bei denjenigen, um deren Wohl und Weiterentwicklung es uns, den Coachs, zu tun sein sollte – bei den Menschen, die sich coachen lassen wollen. Die Coachees sind die Leidtragenden, weil sie oft nicht wissen, auf was sie sich mit einem Coaching einlassen und schließlich erstaunt sind, wenn man ihnen erläutert, ein Coach sei eigentlich „nur“ ein Begleiter auf dem Weg zum selbst gesteckten Ziel.
Mit den folgenden Thesen bringe ich dasjenige am Coachingprozess auf den Punkt, was substantiell an dieser Beratungsform ist. Dabei weiß ich, dass ich mich angreifbar mache: Der Vorwurf, jeder koche sein eigenes Coachingsüppchen, fällt auf mich zurück, man könnte behaupten, auch ich definierte lediglich meine persönliche Coachingversion. Allerdings genießen die Thesen den Vorzug, dass sie sich zu den Wurzeln des Coachings zurückkehren.
These 1: Coaching ist ein Angebot, in die Kutsche zu steigen. Ein Blick ins Herkunftswörterbuch zeigt: Der Begriff „Coach“ stammt aus dem Englischen und bedeutet „Kutsche“. Im übertragenen Sinn transportiert der Coach den Reisenden zu seinem Ziel – und dieses Ziel wird vom Reisegast selbst festgelegt, nicht vom Kutscher. Der Kutscher – oder Coach – wählt mithin nicht das Ziel aus: Höchstens erinnert er den Fahrgast durch seine Frage „Wohin soll die Reise denn gehen?“ daran, dass dieser selbst es ist, dem die Bestimmung des Reiseziels obliegt.
Was macht der Kutscher? Er hält dem Reisenden immerhin die Tür auf. Der Coach ist Reisebegleiter, er ist Türöffner für den Coachee auf dem Weg zum selbst gewählten Ziel. Ob der Coachee einsteigt, liegt in seiner Verantwortung und entscheidet nur er ganz allein. Und er entscheidet auch, ob er schnell oder langsam zum Zielort gelangen möchte – er bestimmt die Geschwindigkeit des Coachingprozesses.
Somit erübrigt sich der Versuch, das Coaching in eine Beratungsrichtung zu drängen, bei der der Coach auch Ratschläge erteilen darf. Nein: Der Coach hat es mit einem selbstverantwortlichen Reisenden zu tun, der seine Ziele selbst formuliert.
Übrigens: Die Kutsche steuert immer auf ein Reiseziel zu – es handelt sich um eine Hin-zu-Bewegung: Coaching ist die Begleitung zu einem in der Zukunft liegenden Reiseziel, Coaching ist immer in die Zukunft gerichtet. Die Kutschen-Metapher trägt noch weiter: Der Kutscher bringt den Gast samt Gepäck zum Ziel – er transportiert den ganzen Menschen: nicht nur den Körper, nicht nur die Seele oder den Geist. Coaching ist eine ganzheitliche Beratungsform, die den ganzen Menschen in den Fokus rückt.
These 2: Coaching ist Hebammenkunst. Von der Kutsche zum Sport: Der Begriff fand zunächst im Sport Verwendung. Der Coach unterscheidet sich vom Trainer dadurch, dass sich der Trainer vor allem um die körperliche Leistungsfähigkeit des Sportlers kümmert, während der Coach überdies Begleiter, Motivator sowie Förderer auch der mentalen Fähigkeiten ist. Wiederum spielt der ganzheitliche Aspekt eine Rolle.
Hinzu kommt: Der Sportcoach bietet seinem Schützling keine vorgefertigten Lösungen an, sondern hilft ihm dabei, alle in ihm angelegten Potentiale zu aktivieren und zu entfalten. Ein Coach pflanzt nie etwas Neues in den Coachee ein, er fügt nichts von außen zu – und gibt darum auch keine Ratschläge. Im Gegenteil: Wie eine Hebamme entwickelt er lediglich das, was in dem Coachee bereits angelegt ist.
Darum ist das vornehmste Entwicklungsinstrument des Coachs die Frage: Bereits die „Hebammenkunst“ des griechischen Denkers Sokrates hat die Frage als Instrument souveräner Gesprächsführung legitimiert.
Der Philosoph regte seine Gesprächspartner durch geschickte Fragen zum Selbstdenken an. Dahinter stand die Einsicht: Oft sind die „richtigen“ Antworten in dem Gesprächspartner schon angelegt. Nur sind sie noch verborgen oder verschüttet. Es gilt, sie hervorzuholen – darum spricht man von „Hebammenkunst“: Durch die richtigen Fragen, gestellt zum richtigen Zeitpunkt, kann der Fragesteller seinem Gegenüber helfen, einer „Wahrheit“ auf die Spur zu kommen. Oder ihm zumindest helfen, sich selbst die richtigen Fragen zu stellen.
Der Coach gibt dem Coachee mithin Hilfe zur Selbsthilfe und sorgt dafür, dass er all das zur Entfaltung bringt, was in ihm – oft verborgen – bereits angelegt ist.
These 3: Erst der Mensch, dann die Methode. Das Aussehen und die Einrichtung der Kutsche, mit der der Coach den Reisegast zum Ziel kutschiert, sind für den Coachingprozess zweitrangig. Der eine bevorzugt das vierrädrige Coupé, der andere den einspännigen Viersitzer, der dritte den geschlossenen Planwagen. Ebenso im Coaching: Es ist gleichgültig, mit welcher Methode der Coach arbeitet, ob er ein „biografisches Coachinginterview“ führt, das neurolinguistische Programmieren, die Provokative Therapie oder die Lösungsfokussierte Kurzzeittherapie nutzt. Wichtig ist: Im Mittelpunkt steht der Mensch, der Coachee.
Der Coach passt die Methode dem Menschen an. Er geht methodisch unvoreingenommen in den Coachingprozess; der Coachee ist nicht für die Methode, sondern diese ist für den Coachee da. Ob und welche Methode im Coachingprozess angewendet wird, entwickelt sich aus den konkreten Erfahrungen des individuellen Coachings. Und darum sind die grundlegenden Fähigkeiten des Coachs das aktive und genaue Zuhören, das Fragenstellen und das Feedbackgeben.
These 4: Die Merkmale des Coachings sind Individualität, Freiwilligkeit, Ehrlichkeit, Gleichrangigkeit und Vertraulichkeit. Kutscher und Reisegast begegnen sich auf Augenhöhe, als gleichberechtigte Partner und Individuen. Entscheidend ist das Verhältnis, das sich zwischen Coach und Coachee aufbaut. Weil es im Coaching oft ans „Eingemachte“ geht, das Privatleben und die Familie und in Kindheit und Jugend erlittene Beschädigungen eine Rolle spielen, weil im Coaching die individuellen Blockaden, Probleme, Wünsche, Veränderungserwartungen und Ängste des Coachees thematisiert werden, ist das Vertrauensverhältnis unabdingbare Voraussetzung für das Gelingen des Prozesses.
Allein aus diesem Grund hat ein hoher Prozentsatz dessen, was heutzutage unter Coaching subsumiert wird, mit dieser Beratungsform nichts zu tun. Denn durch ein Gespräch mit einem Coach, den der Coachee erst seit kurzem flüchtig kennt, kann keine substantielle Beratung zustande kommen, die diesen Namen verdient.
These 5: Beim Coaching ist die lange und die kurze Reise möglich. Wenn sich Kutscher und Fahrgast blendend verstehen, können sie die Reise um die Welt antreten. Unter bestimmten Voraussetzungen kann es aber auch zum kurzen Zwischenspurt kommen. Ein Beispiel für die lange Reise ist das Prozesscoaching. Hier betreut der Coach den Coachee langfristig, die Partner arbeiten über einen längeren Zeitraum zusammen. Dies darf allerdings nicht mit dem „Training on the job“ verwechselt werden. Häufig erzählen mir Coachees, sie würden „schon seit Jahren“ gecoacht.
Wenn ich hinterfrage, was für Themen angesprochen werden, stellt sich heraus, dass sie – oft von der eigenen Führungskraft – am Arbeitsplatz durch konkrete Handlungsanweisungen darauf vorbereitet werden, Aufgaben besser zu erfüllen. Das hat mit „Coaching“ gar nichts mehr zu tun und trägt zur erwähnten Verwässerung dieser Beratungsform und zur Irritation auf Seiten der Coachees erheblich bei.
Zudem ist das punktgenaue Zielcoaching möglich: der schnelle Zwischenspurt mit der Kutsche.
Bei der rasanten Coachingvariante des Highspeedcoachings benötigt der Coachee eine rasche Lösung, Anregung oder Idee für ein drängendes aktuelles Problem: ein schwieriges Kundengespräch, eine Rede, die er vor dem Vorstand halten muss, eine schnelle Entscheidung. In einem Blitztelefonat stellt ihm der Coach die entscheidenden Fragen, die ihn auf die Zielgerade führen.
Hier muss der Coach ganz und gar auf den Coachee fokussiert sein: Er erfasst kongenial und fast schon intuitiv die Herausforderung, vor der der Coachee steht und unterstützt ihn dabei, sie zu meistern. Beim Highspeedcoaching ist das Vertrauensverhältnis zwischen den Beteiligten von Vorteil, aber keine notwendige Voraussetzung.
Ab und zu geschieht das Unbegreifliche
Ist das Vertrauensverhältnis aufgebaut, begegnen sich Coach und Coachee zuweilen auf einer Ebene, die dem Bewusstsein unzugänglich ist. Sie erreichen einen nicht für möglich gehaltenen Grad des Verständnisses und der Übereinstimmung. Es ist, als ob plötzlich unvermutet ein Fenster zum Coachee aufgestoßen werden konnte – die Problemlösung scheint am Horizont auf. Das heißt: Im Coaching geschieht zuweilen das Unbegreifliche, dass zwei Menschen einen Draht zueinander finden, eine Beziehung aufbauen, die bei keiner anderen Beratungsform in dieser Intensität erreicht wird.
Die Autorin: Doris Stempfle ist Unternehmens-Coach und Expertin für kreative Problemlösungen in Führung und Verkauf. Sie ist Inhaberin der Firma „Stempfle Unternehmensentwicklung durch Training“.