Freude am Verzicht

Mehr durch weniger? Wer den realen Kontakt sucht und im Gespräch aufmerksam zuhört, wird mit einem nuancierten Spannungsfeld in der Lebens- und Wertewelt der Generation 50plus konfrontiert. Sie scheinen das Vorzeichen ihres Suffixes in ‚Generation 50minus‘ zu drehen – denn ihre Maxime lautet häufig: „Freude am Verzicht“. Aber, und das ist das wirklich Überraschende, ohne jegliches Vermissenserlebnis.

Ohne einen Ton des Beklagens äußern sie sich über ihre Erfahrungen, dass sie heute nichts mehr schaffen. Im Gegenteil, ihre optimistisch-gelassene Freude erwächst daraus, dass morgen ja auch noch ein Tag kommt. Wenn sie auf Tennis verzichten müssen, weil die Grundschnelligkeit nur noch für langatmige Grundlinien-Duelle reicht – kein Problem, statt Tennis lässt sich mit gediegenerem Tanzen genauso viel Spaß haben.

Im Kontrast dazu befindet sich eine scheinbar einhellige Meinung der Außenstehenden und ihrem Mantra der überbordenden Völlerei eines ‚Immer mehr, immer weiter, immer besser‘. Das Etikett „Marketingchance der Zukunft“ wird fest an die Brust von Best Agern, Silver Surfern, Woopies oder Master Consumern geheftet. Zu eindeutig hat sich bereits seit Dekaden ein Tenor der kaufkräftigsten, wachstumsstärksten, aufgeschlossensten, aktivsten und fittesten 50+ Generation aller Zeiten herauskristallisiert. So zeigen aktuelle USA-Studien exakt bis auf die Nachkommastelle, dass sich die 55,1-jährigen 7,5 Jahre jünger fühlen. Und wer sich jünger fühlt, der wird ja wohl kaum bereitwillig auf neu gewonnene Möglichkeiten und Freiheiten verzichten wollen.

Auch monetär rechnet sich rund um den Globus offensichtlich das Rechnen mit der Generation 50+. In Deutschland bündeln sich in ihren Händen rund zwei Billionen Euro Nettovermögen, rund 500 Milliarden Euro an verfügbarer Kaufkraft, rund 50 Prozent Tourismusausgaben, rund 80 Prozent aller Neuwagen-Käufe … und, und, und. Kurz: Es herrscht eine harmonische Meinungs-Idylle, in der sich die Konsensgesellschaft noch gegen die aktuelle Modeerscheinung der Protest-/Widerspruchs-Generation offensichtlich behaupten kann.

Um so überraschter fällt der Blick teils auf die Konfrontation mit der Realität. Einer erfahrenen Generation, der es vor allem um Klarheit, Respekt und Ernsthaftigkeit geht, wird mit einer neuen Form der Überzeichnung begegnet. Nicht zu selten werden die alten Klischees vom betreuungsbedürftigen, freudlosen Senior durch neue Stereotype des hyperaktiven Tausendsassas ersetzt. In einem Moment des Innehaltens fällt bei einer differenzierteren Analyse der Fakten das Risiko auf, hier einem Trugschluss zu erliegen. Ja, die Generation 50+ ist unternehmungslustig – aber nicht über Gebühr. So sind zum Beispiel die Konsumausgaben für Entertainment selbst in den USA mit einem Index von 108 nur unwesentlich größer als in der Gesamtbevölkerung. Sollte das „Mehr, Mehr, Mehr“ als Treiber am Ende etwa doch ein Trugschluss sein?

Wohltuend differenzierter klingen da die Stimmen aus dem 6. Altenbericht des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (…welch herrlich friedliche Koexistenz der Generationen): Beschwörend weist er darauf hin, das Alter sei zwar nicht gleichzusetzen mit „Verfall, Krankheit und Abseitsstehen“, aber eben auch nicht mit „Vergnügungssucht und Kreuzfahrten auf Luxuslinern“. Alt ist eben nicht mehr gleich alt. Selbst die „Jungen Alten“ sind nicht immer die „Jungen Alten“. Darin bestätigt uns zunehmend auch die Altersforschung. Paul Baltes, einer der Ur-Ahnen der Altersforschung, zeichnete dazu folgendes Bild: Wenn sich 15-Jährige aus der gleichen Schulklasse zu einer Party träfen, sei ihnen das Alter leicht anzusehen. Bei einem Klassentreffen von 65-Jährigen sei das anders. Da habe man manchmal den Eindruck, als hätte jemand den Vater mitgebracht – und ein anderer seinen Sohn.

Selbst das etablierte Thema „Freude an neu gewonnenen Freiheiten zur Selbstverwirklichung“ muss den harten Zahlen nach unter einem anderen Licht reflektiert werden. Immerhin geben zwar 23 Prozent der 50+ in den USA an, nach ihrem Ausscheiden aus dem Beruf weiterhin aus persönlichen Interesse und Spaß arbeiten zu wollen. Dem stehen allerdings auch 29 Prozent gegenüber, die mit einem Teilzeit-Job rechnen, einfach aus der harten Notwendigkeit heraus, ihr Einkommen aufzubessern. Zusätzliche sieben Prozent haben sich sogar vom Traum des Rentiers verabschiedet und sehen sich später in einer neuen Vollzeitstelle. Ein Verzicht auf dieses Einkommen könnte zu existenziellen Bedrängnissen führen.

Im vermeintlichen Widerspruch dazu stehen auf den ersten Blick zeitgleiche Studien, die eine hohe Lebenszufriedenheit konstatieren. Demnach sehen 60 Prozent der berufstätigen bzw. 74 Prozent der Rentnerin der amerikanischen 50+-Generation sehr oder ziemlich optimistisch in ihre eigene Zukunft. Eine Größenordnung, die sich nicht allein mit dem spezifischen, kulturellen Einfluss und dem verfassungsgemäß verankerten, amerikanischen ‚Recht auf Glück‘ erklären lässt. Selbst im tendenziell etwas zurückhaltend-skeptischeren, deutschen Kulturkreis blicken knapp zwei Drittel der 70- bis 100-Jährigen zufrieden bis sehr zufrieden auf ihre aktuelle und auch zukünftige Situation. Woher kommt es also, dass ein Verzicht keine unvereinbare Gegenposition zur Lebensfreude sein muss?

Interessant wird es, wenn das Augenmerk auf die psychologische Erklärung hinter diesem Phänomen fällt. Mögliche Einschränkungen der eigenen Lebenssituation entwickeln, und das relativ losgelöst von der Frage „Gewollt oder ungewollt“, eine andere Art der Dynamik. Aus dem „Drama, Baby, Drama“ der jungen Jahre wird das „No more drama“ der reifen Jahre. Weniger muss kein Verzicht auf die gefühlte Lebensqualität sein. Auf die noch offene stehende, gestaltbare Lebensspanne wird mit offen-ehrlichem Blick geschaut. Im stärkeren Bewusstsein der eigenen Endlichkeit kann eine wesentlich gelassenere Gefühlswelt erwachsen. Aus übereifrigem Aktionismus wird die Lust an der überlegten Aktivität.

Wie so häufig, lässt sich im überlieferten Volksmund eine ‚Human truth‘ finden, die der modernen Insight-Forschung kaum nachsteht: Erfahrung ist die gewonnene Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die man nicht ändern kann; den Mut zu haben, Dinge verändern zu wollen, die sich ändern lassen, …und das alles verbunden mit der Weisheit, das eine vom anderen unterscheiden zu können. Diese bewusste Konzentration auf das Wesentliche und der befreiende Verzicht auf Überflüssiges greift nach Sicht der Altersforscher auf höchst ausgereifte Mechanismen zu persönlichen Glückssteigerung zurück: Selektion, Optimierung, Kompensation. Arthur Rubinstein faszinierte so als 90-jähriger noch Konzertgänger. Einfach, in dem er sich auf weniger, für ihn noch spielbare Stücke konzentrierte und vor schnelleren Abschnitt überlegt langsamer spielte, damit seine feinmotorisch eingeschränkte Dynamik nicht auffiel.

Welche Mentalität der gelassenen Souveränität selbst aus einem erzwungenen Verzicht resultieren kann, zeigt wunderbar pointiert die dazu passende Anekdote über ihn: Mit 89 Jahren gibt er im Jahr 1976 in London sein letztes Konzert, halb blind zwar, doch „wo die Tasten liegen“, beruhigt Rubinstein die Kritiker, „habe ich mir inzwischen gemerkt.“

Kommunikativ wäre es zumindest ein spannungsgeladener, humorvoll-selbstironischer Werte-Kontrast, diese „Freude am Verzicht“ zu inszenieren. Eine Inszenierung, die im Ideal auch die Tür öffnet, wesentlich spezifischer als über austauschbare „Happiness“-Ansätze auf die spezifische Verfassungssituation der Generation 50plus einzugehen. Und wer weiß, vielleicht erschließt das auch ein Instrument, das das durchgängige Defizit in der Empfehlungsbereitschaft im Vergleich zum oberflächlichen Anzeigengefallen kompensiert. Empfehlung resultiert letztlich aus dem Gefühl, einfühlsam in seinen wahren Freuden verstanden worden zu sein.

Viagra zeigt in Teilen, wie mit viel Sensibilität die Gefühlswelt einer Generation auf den Punkt getroffen werden kann. Der Cannes-prämierte Viagra-„Antiquing“-Spot aus 2010 geht mit seinem herrlich selbstironischen Doppelspiel zwischen Verzicht und Freude in die richtige Richtung: Wiedergewonnene Freude durch Konzentration auf das Wesentliche. Auf gewisse Sachen verzichtet man gerne, auf andere eben nicht.

Über den Autor: Jörg Aschenbrenner ist Senior Planner bei Grey Worldwide.

Die Fakten im Text basieren auf den folgenden Quellen:
1. Grey In-Home Interviews Generation 50plus, 07/2011
2. AARP, in: AdAge Insights – 50plus and over: What’s next? 04/2011
3. Die Zeit Nr. 22/26.05.2011
4. AdAge: 50plus and over: What’s next?
5. Geo-Wissen, Nr.47, 09.05.2011: Glück, Zufriedenheit, Souveränität: Auch im Ruhestand noch guter Dinge
6. www.wdr.de/themen/kultur/stichtag
7. Bauer Best Ager Award 2010
8. www.videosostav.ru/video