Forscher Quiring über Personalisierung: Schrille Jugendkulturen gehören früherer Jahrzehnte an, jetzt regiert die „Generation Biedermeier“

Frank Quiring, Member of the Board beim Rheingold Institut, über die Psychologie der Personalisierung: Warum viele Menschen maßgeschneiderte Produkte mögen – manche aber auch nicht.
Frank Quiring sieht bei den Jüngeren eine neue „Generation Biedermeier“

Herr Quiring, warum lieben Menschen maßgeschneiderte Produkte?

FRANK QUIRING: Sie geben uns das Gefühl, von der Marke gesehen und als Individuum geschätzt zu werden. Man kann das mit dem liebenden Blick der Mutter vergleichen: Sie kümmert sich darum, dass wir genau das bekommen, was wir brauchen. Wenn wir zudem die Gestaltung von Produkten selbst beeinflussen können, erleben wir eine Art Wirkmacht, die unser Selbstgefühl stabilisiert. Wir können Kontrolle ausüben.

Wie neu ist das Phänomen Personalisierung?

Produkte waren früher immer personalisiert. Die Kleider wurden selbst angefertigt, die Hüte, die Schuhe gemacht, das Essen selbst zubereitet. Das war eine schlichte Notwendigkeit und mit Aufwand verbunden, verlieh aber auch das Gefühl individuellen Stolzes. Mit der Industrialisierung und der Massenproduktion wurde uns diese Aufgabe abgenommen. Das brachte zwar gleichbleibende, verlässliche Qualität und Convenience, aber das persönliche Gefühl für die Dinge ging verloren, sie wurden uns fremd. Das Aufkommen ausdifferenzierter Marken eröffnete dann aber die Möglichkeit, seine Persönlichkeit über Produkte auszudrücken.

Dafür stehen vor allem die hedonistischen 80er-Jahre.

Genau. Damals setzte die massenhafte Selbstinszenierung ein. Sie wurde durch das Internet und vor allem die sozialen Medien noch verstärkt. Jeder ist heute Designer seiner individuellen Persönlichkeit. Dieser Trend wird beschleunigt durch das Wegfallen verpflichtender Normen in den westlichen Gesellschaften. Keiner gibt mehr etwas vor, nichts ist mehr stabil, alles verändert sich rasend schnell. In dieser  „Verflüssigung“, wie wir es nennen, ist man selbst gezwungen, zu gestalten. Hinzu kommt eine wachsende Anonymität, aus der wir herausstechen wollen.


Das Interview ist Teil des absatzwirtschaft-Magazins 11/18, das Sie hier bestellen können


Was Menschen auch überfordern kann.

Natürlich. Deshalb strebt nicht jeder nach möglichst viel Individualität. Vor allem junge Menschen suchen wieder stärker Halt, Gemeinschaftsgefühl und Loyalität. Sie sind in politisch unruhigen Zeiten groß geworden – die westliche Welt hat sich von der Verunsicherung durch 9/11 nicht mehr erholt. Deshalb wollen die Jüngeren weder durch übertriebene Markanz aus dem Kollektiv herausfallen noch komplett darin aufgehen. Im Gegensatz zu den teilweise schrillen Jugendkulturen früherer Jahrzehnte regiert jetzt die „Generation Biedermeier“.

Wie stark sollten Marken dem Bedürfnis nach Individualität entgegenkommen?

Sie müssen einen Spagat beherrschen: Auf der einen Seite brauchen sie ihre unverwechselbare, konstante Markierungsfunktion, auf der anderen Seite müssen sie auf immer ausdifferenziertere Bedürfnisse eingehen, bis hin zu personalisierten Produkten, wie sie Nike oder Mymuesli anbieten.

Was aber sehr teuer ist.

Das wird sich mit dem 3-D-Druck ändern, der für viel mehr Unikate sorgen wird. Mit den neuen Möglichkeiten werden viele Unternehmen ausloten, ob Personalisierung für ihr Geschäftsmodell sinnvoll ist.

Ist die Preisbereitschaft für personalisierte Produkte höher?

Nicht generell, nur insoweit die Konsumenten einen höheren Aufwand in der Herstellung vermuten. 

Eignen sich überhaupt alle Produktbereiche dafür?

Nein, da muss man sehr genau hinschauen. Rheingold hat mit den „Continents of Markets“ eine psychologische Systematisierung von Produktbereichen geschaffen. Sie werden danach sortiert, welche Art von Bedeutung und Relevanz sie für die Verbraucher haben. Personalisierung bietet sich bei Produkten an, die mich in meiner Individualität unterstützen und stärken. Dazu gehören die „Persönlichkeitsmarkierer“ wie Mode und Autos. Aber auch die „Alltagsbegleiter“ wie Kaffee und Wasser eignen sich sehr gut, weil sie mich dabei unterstützen, durch meinen individuellen Alltag zu kommen. Ein Brot mit Nutella aus einem personalisierten Nutellaglas bekräftigt das Kind persönlich, seinen Schulalltag zu bewältigen.

Und wo funktioniert es nicht so gut?

In Produktbereichen, in denen man sich an die jeweiligen Marken anlehnen, sich ihrer formenden und orientierenden Macht überlassen will. Das sind vor allem die „Schutzmächte“, unter anderem Pharmazie, Versicherungen und Energieversorger. Auch „Stimmungswandler“ sind wenig relevant: Ein Glenmorangie-Whisky etwa soll mich in die Glenmorangie-Whisky-Stimmungswelt bringen, ähnlich ist es bei TV-Serien oder Reisen. Darin will ich als Individuum aufgehen, mich im besten Sinne „verlieren“ und nicht konstant selbst wahrnehmen.

(kj, Jahrgang 1964), ewiger Soul- und Paul-Weller-Fan, hat schon für Tageszeitungen und Stadtmagazine gearbeitet, Bücher über Jugendkultur und das Frankfurter Bahnhofsviertel geschrieben und eine eigene PR-Agentur betrieben. 1999 zog es ihn aus dem Ruhrgebiet nach Frankfurt, wo er seitdem über Marketing-, Medien- und Internetthemen schreibt, zunächst als Ressortleiter bei „Horizont“, seit 2008 als freier Journalist und Autor. In der Woche meist online, am Wochenende im Schrebergarten.