Laut Ökonomen und Politikern geht es Deutschland gut. Die Wirtschaft wächst. Für dieses Jahr sagt die Bundesregierung ein Plus von 1,8 Prozent voraus. Das Bruttoinlandsprodukts (BIP) ist der wohl bekannteste Maßstab für die Entwicklung der Wirtschaft. 2018 lag es in Deutschland bei 3,39 Billionen Euro. So viel waren also alle Waren und Dienstleistungen wert, die hierzulande im vergangenen Jahr erstellt worden sind.
Erfunden hat diese Kennzahl in den 1930er Jahren der amerikanische Ökonom Simon Kuznets, der später den Wirtschaftsnobelpreis erhielt. Kuznets selbst hat allerdings schon damals darauf hingewiesen, dass man diesen Wert nicht überinterpretieren darf. „Das Bruttoinlandsprodukt misst alles, außer dem, was das Leben lebenswert macht“, so US-Präsidentschaftskandidat Robert F. Kennedy später. Doch das BIP ist bislang alternativlos. Und das wird zum Problem, versäumt es neben der von Kennedy geforderten Zufriedenheit der Menschen auch viele Aspekte der Digitalwirtschaft abzubilden.
Wikipedia nutzt den Menschen, kostet aber nichts
Die Frage, wie wir in Zukunft Wohlstand messen, wird immer drängender. Schließlich wird beim BIP vor allem gemessen, in welcher Menge Waren wie beispielsweise Autos produziert werden. Anders als bei diesen greifbaren Produkten lässt sich der Wert von Datensätzen schwer beziffern. Das Statistische Bundesamt behilft sich deshalb mit den Zahlen, die die Finanzämter ihnen über die Technologiefirmen übermitteln. Dabei bleibt aber vieles unberücksichtigt. Wikipedia stellt sein Onlinelexikon kostenlos zur Verfügung. Somit fließt das nicht in die Rechnung ein. Die Menschen haben aber einen Nutzen. Ähnlich verhält es sich mit Suchmaschinen oder sozialen Netzwerken.
In den USA hat Erik Brynjolfsson, Professor am MIT, errechnet, dass all das den Wohlstand der Amerikaner jährlich um 100 Milliarden US-Dollar steigert. In eine offizielle Statistik fließt dieser Wert aber nicht ein. Das heißt, der Nutzen der Digitalisierung wird ökonomisch weit unterschätzt. Oder anders: Das BIP und die damit verbundenen Messverfahren haben heutzutage eine sehr geringe Aussagekraft.
Oft geht der Wert über den gezahlten Preis hinaus
Gemeinsam mit anderen MIT-Forschern hat Brynjolfsson die kostenlosen digitalen Güter, die Menschen nutzen, mit einem Betrag beziffert. Beispielsweise hat Facebook einen monatlichen Wert von 40 bis 50 Dollar für Verbraucher. In Europa kosten digitale Karten auf Mobiltelefonen 59 Euro pro Monat. Das kostenlose Messaging-Tool WhatsApp, das am häufigsten außerhalb der USA verwendet wird, ist laut Umfrage 536 Euro pro Monat wert. Für die Studie verwendeten die Forscher drei großangelegte Online-Umfragen. Die Verbraucher wurden gebeten, die von ihnen genutzten kostenlosen Online-Dienste mit einem Preis zu versehen.
Die Studie ergab eine Reihe von eindeutigen Ergebnissen in Bezug auf Onlinedienste und bestimmte Unternehmen. Beispielsweise gaben Verbraucher einen durchschnittlichen Jahreswert von 1173 US-Dollar für Online-Video-Streaming-Dienste wie YouTube und Netflix an. Gleichzeitig erheben manche Videoplattformen Gebühren. In beiden Fällen – kostenlos oder mit geringen Gebühren – haben die Umfragen ergeben, dass die Online-Videonutzung einen erheblichen „Verbraucherüberschuss“ generiert. Das bedeutet, sie haben für die Verbraucher einen Wert, der über die von ihnen gezahlten Preise hinausgeht. In diesen Fällen schaffen Online-Videoanbieter viel mehr Wert als sie derzeit abschöpfen, so die Forscher.
Forscher erarbeiten alternatives BIP
Die MIT-Forscher erarbeiten auf der Basis der Studien-Erkenntnisse nun eine alternative Version des BIP. Das Silicon Valley weißt schon länger darauf hin, dass kostenlose Online-Produkte vom BIP vernachlässigt würden. Schließlich tragen die kostenlosen Waren theoretisch zu unserem allgemeinen Wohlbefinden bei. Denn obwohl der Einsatz von Computertechnologie massiv zugenommen hat, machte der Informationssektor von den frühen 1980er Jahren bis 2016 konstant zwischen vier und fünf Prozent des US-BIP aus.