Seit dem Aufkommen von ChatGPT im November 2022 haben die beeindruckenden Fähigkeiten des Sprachmodells die kühnsten Prognosen beschwört: Binnen Monaten würden Agenturmitarbeiter*innen durch KI-Tools ersetzt und Werbung – endlich – flächendeckend personalisiert und streuverlustfrei ausgespielt. Doch 20 Monate später zeigt sich: Die Entwicklung schreitet zwar zügig voran, allerdings ist es doch eher eine Evolution, denn eine Revolution.
Die Fragmentierung der Werbewelt hält an. „Wir sehen eine Explosion der Touchpoints“, so Burkhard Müller, Geschäftsführender Gesellschafter und CDO von Mutabor sowie Vorstand des Fachbereichs Digital im ADC. Die durchschnittlichen Werbeausgaben, um diese Kanäle zu bespielen sinken jedoch. Laut dem „CMO Spend Survey“ der Marktforscher von Gartner gingen sie 2024 um 15 Prozent zurück und machen nur noch 7,7 Prozent des Unternehmensumsatzes aus (2023: 9,1 Prozent). „Künstliche Intelligenz wird in dieser Abwärtsspirale der Hebel sein, um aus dem Dilemma zu kommen“, glaubt Nina Haller, Vorstand des Agenturverbands GWA und CMO der Technologie- und Digitalberatungsagentur Experience One.
„Der Einsatz von KI ist unser Mittel zum Zweck, um schneller und effizienter zu werden“, sagt Kristina Bulle, CMO von Procter & Gamble DACH. Der weltweit größte und einer der innovativsten Werbungtreibenden setzt KI schon seit Jahren ein, von der Produktinnovation bis zur Markenführung. Doch das Spektrum ist noch lange nicht ausgereizt: „Gleichzeitig steckt in vielen Bereichen dieser Technologie noch Potenzial“, so Bulle. Viele Kunden und vor allem Agenturen haben in den vergangenen anderthalb Jahren ebenfalls die ersten Erfahrungen mit generativen KI-Anwendungen gemacht. In den Award Shows dominieren jedoch klassisch erstellte Arbeiten, was Haller als Indiz dafür sieht, dass generative KI noch lange kein Standard ist: „Wir sind mitten in der Digitaltransformation, mitten im Sturm. Der Reifegrad von KI ist nicht da, wo wir den Begriff verorten.“
Komplette KI-Kampagnen sind die Ausnahme
Die Systeme entwickeln sich zwar schnell weiter und gerade in der Kreation hat es in den vergangenen Monaten große Sprünge gegeben. Die Bildprogramme arbeiten mittlerweile fotorealistisch, die Unterschiede zwischen realen und KI-generierten Bildern sind mitunter nur noch von Profis zu erkennen, was das Potenzial für die Werbung erhöht. Bulle: „KI versetzt uns in die Lage, Dinge umzusetzen, die ohne KI so nicht möglich gewesen wären.“ Als Beispiel nennt sie den Herbal-Essence-Launch, bei dem zur Visualisierung Blumen aus dem Big Ben rankten. Die TikTok-Ads wirken vollkommen echt.
Doch komplett KI-generierte Kampagnen sind die Ausnahme, selbst bei Procter. „In der Werbung hilft uns KI vor allem am Anfang eines Kreationsprozesses“, so Bulle. Ähnlich sieht es bei Nestlé aus: „Wir nutzen die Tools zur Inspiration und zum Brainstorming“, sagt Daniel Marschollek, Head of Digital Transformation Nestlé Deutschland. Kreative, die gut prompten können, schaffen es mit Lösungen wie Midjourney, Dall-E oder Adobe Firefly binnen Stunden Ideen zu entwickeln. „KI ist vor allem geeignet für das Creative Prototyping und hilft Ideen zu visualisieren“, sagt Max Penk, Creative Innovation Director der Agentur David + Martin.
KI allein macht keine Qualität
Arbeiteten Agenturen bislang mit Moodboards und Bilddatenbanken, um den Kunden eine Idee nahezubringen, kann mit KI nun viel präziser gezeigt werden, wie die Kampagne aussehen soll. Gerade bei der Entwicklung von Key Visuals sieht ADC-Vorstand Müller einen großen Vorteil in KI-Lösungen: „Man kommt in kurzer Zeit zu einem guten bis sehr guten Ergebnis.“ Aber Midjourney, Chat GPT & Co sind in erster Linie Tools.
Der Einsatz der Instrumente sichert noch lange keine besonders kreativen und dabei auch noch markenkonformen Kampagnen. „Auf dem Weg zu guter Kreation, ist KI nur ein Mittel zum Zweck. Am Ende geht es immer um die Qualität. Entscheidend ist, wie schnell und gut die Ergebnisse sind“, sagt Penk. Um die Tools gut zu beherrschen, müssten Kreative sie jeden Tag benutzen, so Penk. Ein erfahrener Art Director, der Bilddatenbanken beherrsche, bringe ebenfalls gute Ergebnisse. „Ob die Idee von kreativen Köpfen oder aus einer KI stammt, ob bei der Erstellung von einzelnen Szenen auf KI zurückgegriffen wird, ist für die Qualität des Ergebnisses erst einmal zweitrangig“, so Bulle.
David + Martin schreibt den Mitarbeitenden daher nicht vor, mit KI-Tools zu arbeiten, bietet ihnen jedoch die Möglichkeit. Weil KI in Sachen Zeitersparnis und vor allem auch dem Produktionsaufwand große Effizienzgewinne verheißt, ist das Thema Schulung und Qualifikation bei vielen Unternehmen aus der Werbebranche das große Thema. Nestlé bringt KI den Mitarbeitenden in Townhalls, Good Talks oder den „ Fishbowl“-Diskussionen, bei denen am Diskutanten-Tisch jeweils ein Platz flexibel mit Fragestellern aus dem Publikum besetzt wird, nahe. „Man muss in die Organisation ein Gefühl dafür bringen, was mit AI möglich ist“, so Marschollek. Und das kann dauern und ist ein Grund, warum KI nur nach und nach in der Praxis ankommt.
Daten aufräumen, Qualität steigern
Ein weiterer ist die Frage danach, wie KI die Authentizität von Marken beeinflussen kann. Wer sich nur auf KI verlässt, läuft Gefahr, dass die eigene Werbung am Ende wie die des Wettbewerbers aussieht. Auch ethisch wird das Thema diskutiert: Nivea zum Beispiel hat bereits angekündigt, keine KI-generierten Bilder von Haut zeigen zu wollen. Bei Gesichtern und Menschen generell gehen die Meinungen auseinander, wie viel KI die Konsument*innen akzeptieren werden.
Mutabor-CDO Müller, dessen Firma mit Mutabor.ai eine eigene Lösung entwickelt hat, hält daher eine Zweiteilung für sinnvoll: Einerseits die möglicherweise auch aufwendige Produktion und Visualisierung einer Kernidee in der realen Welt, aus der dann andererseits KI-gestützt Werbemittel für verschiedene Kanäle abgeleitet, also adaptiert werden können. „Es geht darum, einen einzigartigen Look zu entwickeln, mit dem die Contentteams der Marken dann schnell eigenen Content entwickeln können.“ Insbesondere für Social Media ist KI wie der heilige Gral: Gab es bislang oft keine kanalspezifischen Werbemittel, wird die Erstellung nun einfach und kostengünstig.
Für eine gelungene Personalisierung und passende Zielgruppenansprache ist aus Sicht von Experience-One-CMO Nina Haller allerdings entscheidend, dass Marken viel Energie darauf verwenden, festzulegen, wer sie sein wollen, bevor die Informationen in die KI gegeben werden. „Die eigene Markenidentität kann nur trainiert werden, wenn klar definiert ist, wie diese aussieht und man dem Modell Daten zur Verfügung stellt.“ Sie rät Kunden dazu, „ihre Daten aufräumen, damit KI sie nutzen kann“. Das sieht auch Nestlé-Manager Marschollek so: „Die Datenqualität spielt eine große Rolle für das Ergebnis.“
Rechtliche Fragen bremsen Entwicklung
Weitere Bremsklötze für den flächendeckenden Einsatz sind derzeit auch Urheberrecht und Datenschutz. Viele Werbungtreibende sind dabei, vertraglich zu fixieren, welche Programme von ihren Agenturen überhaupt genutzt werden dürfen, um sicherzustellen, dass sich Kampagnen und Key Visuals am Ende nicht als Plagiat entpuppen oder die KI verzerrte Ergebnisse. Größere Kunden wie Nestlé bauen zudem eigene KI-Tools, um sensible Informationen zu schützen: „Nes-GPT kann zum Beispiel dabei helfen, sicherzustellen, dass Social-Media-Posts im Einklang mit unseren unternehmensinternen Guidelines stehen“, sagt Nestlé-Manager Marschollek. Auch Verzerrungen, stereotype Rollenbilder und diskriminierende Sprache müssen der KI abtrainiert werden, was ohne menschliche Kontrolle derzeit nicht funktioniert.
Letztendlich ist auch KI ein Tool, dessen optimalen Einsatz Kunden und Agenturen gerade erst lernen. Kristina Bulles Fazit nach anderthalb Jahren Gen-AI-Hype: „Die besten Ergebnisse erzielen wir, indem wir die Möglichkeiten von KI und die herausragenden Kompetenzen unserer Teams zusammenbringen.“