ESL-Chef Reichert: „Das dauert noch zehn, eher zwanzig Jahre“

ESL-Chef Ralf Reichert spricht im Interview über die Auswirkungen der Corona-Krise auf das weltgrößte Esports-Unternehmen und ist dabei gewohnt offen. Er ist verwundert über die Digitalstrategien von Bankvorständen und FMCG-Marken, kritisiert die Blockade-Haltung traditioneller Institutionen und gibt einen Einblick in die Vermarktungspläne der ESL.
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Esports-Event in Kattowitz: "Für uns steht nicht die Kommerzialisierung an erster Stelle, sondern der Fan – er ist der Dreh- und Angelpunkt." (© Adela Sznajder/ESL)

Herr Reichert, während der traditionelle Sport in den vergangenen Monaten größtenteils zum Erliegen kam, konnte die Esports-Szene ihren digitalen Spielbetrieb fortsetzen und in der Corona-Krise auch deutliche Reichweiten-Zuwächse erzielen. Hat sich das auch in der Vermarktung bezahlt gemacht?

RALF REICHERT: Unsere Zuschauerzahlen haben sich tatsächlich sowohl auf digitalen Kanälen als auch im linearen TV verdoppelt bis verdreifacht.Diese Steigerungen haben einen direkten Impact auf unsere Medienrechtsverträge. Wir haben in diesem Jahr bereits in Brasilien, Russland und China große Deals mit Medienunternehmen schließen können, die uns ein signifikantes Wachstum im Vergleich zum Jahr 2019 bringen werden.

Wie sieht’s im Sponsoring aus?

Im Sponsoring ist die Lage etwas schwieriger, da erwarten wir dieses Jahr ehrlich gesagt keine positiven Effekte. In den vergangenen Wochen und Monaten waren viele Unternehmen ja mehr oder weniger im Überlebensmodus. Aber wir haben glücklicherweise in den vergangenen Jahren bereits viele große Partnerschaften geschmiedet. Unsere Partner habenuns während der Corona-Krise vorbehaltlos den Rücken gestärkt und sie profitieren jetzt auch von den gesteigerten Reichweiten. Für 2021 bin ich sehr optimistisch, dass wir diesen gefühlten Rückenwind mitnehmen werden und auch im Sponsoring einige starke Marken an uns binden können.

Die ESL veranstaltet jährlich weltweit über 13.000 Esports Turniere und Ligen in mehr als 50 Spielen. Wie wichtig ist es für Ihre Vermarktung, dass die Offline-Events wieder mit Fans stattfinden dürfen?

Da gibt es zwei Ebenen. Aus rein kommerzieller Sicht sind die Offline-Events gar nicht so relevant, wie man vielleicht glauben mag. Klar sind wir alle auf Erlebnismarketing gepolt, wir haben unsere Turniere entsprechend zelebriert und in der Vermarktung nach vorne gestellt. Aber für uns steht nicht die Kommerzialisierung an erster Stelle, sondern der Fan – er ist der Dreh- und Angelpunkt. Wir bringen unsere Wettkämpfe in ein Stadion, damit die Esports-Anhänger magische Momente erleben können.

Was heißt das für die Vermarktung?

Dass wir ausschließlich Partner suchen, die uns dabei helfen, unseren Fans ein noch besseres Erlebnis zu bescheren. Der Ursprung ist immer der Fan und nicht der Sponsor. Denn am Ende geht es ja um die Zielgruppe und nicht um uns selbst.

Die Frage ist, ob die werbetreibende Industrie das auch schon so verinnerlicht hat. Wie würden Sie das Verständnis für Esports-Sponsoring bei den Marken da draußen aktuell auf einer Skala von eins bis zehn beziffern?

Immer auf Augenhöhe zu sprechen, geht ja gar nicht. Esports sind – wie auch die ESL – gerade mal rund zwanzig Jahre alt. Das hat auch zur Folge, dass Menschen, die vor zehn Jahren ihr Studium abgeschlossen haben, überhaupt nur eine 20- bis 30-prozentige Chance haben, Esports wirklich gut zu kennen. Bis wir eine vollständige Durchdringung wie bei anderen Sportarten haben, die es zum Teil seit 50 und mehr Jahren gibt, wird es ganz objektiv betrachtet noch mindestens zehn, eher zwanzig Jahre dauern. Auf einer von Ihnen angesprochenen Skala stehen wir im Esports-Sponsoring folglich irgendwo bei drei bis fünf.

Ist das gut oder schlecht?

Das heißt positiv betrachtet vor allem, dass schon 30 bis 50 Prozent der Unternehmen die Esports-Welt strategisch durchdacht und in ihrem Marketing verankert haben. Die negative Lesart wäre: Zwischen 50 und 70 Prozent der Unternehmen, und damit die Mehrheit, haben sich noch nicht in gesondertem Maße mit Esports beschäftigt. Das klingt in meinen Ohren aber eher so, als hätten wir hier noch ein wahnsinniges Potenzial! Das wollen wir in den kommenden Jahren sukzessive ausschöpfen – und darauf freuen wir uns.

ESL-Chef Reichert:
„Banken und klassische Finanzunternehmen müssen allesamt aufpassen, dass sie nicht austauschbar werden. Ich wundere mich teilweise echt, dass die nicht mega-aggressiv in der jungen Zielgruppe um ihre langfristigen Kunden werben.“

Wie geht die ESL dabei konkret vor?

Unser allerwichtigster Job ist es, gute Produkte zu bauen, die unsere Spieler und Fans glücklich machen. Denn diese beiden Gruppen überzeugen am Ende auch die Partner. Darauf aufbauend werden wir natürlich auch die Frequenz und die Qualität der Vermarktungsgespräche hochfahren. Erfolge lassen sich aber auch nicht erzwingen, insbesondere Sport müssen Marken und ihre Verantwortlichen fühlen und verstehen. Die Adaption ist immer etwas langwieriger als bei einer einfachen Werbebuchung in anderen Umfeldern.

Zu den Partnern der ESL zählen bereits globale Marken wie die DHL, Intel und Mercedes-Benz. Wo sind die aus dem traditionellen Sport bekannten Branchen wie Brauereien, Banken und Versicherer?

In Deutschland hat sich jede große Brauerei sehr intensiv mit Esports beschäftigt, die Marketer sind da sehr progressiv – einige sind sogar seit langer Zeit Teil unseres Partner-Portfolios. Mit Warsteiner und Bitburger haben wir starke Partner an unserer Seite, die ihr Engagement über mehrere Jahre sogar weiter ausgebaut und sich in der Szene gut etabliert haben. Anders sieht es bei Banken und klassischen Finanzunternehmen aus, die allesamt aufpassen müssen, dass sie nicht austauschbar werden. Ich wundere mich teilweise echt, dass die nicht mega-aggressiv in der jungen Zielgruppe um ihre langfristigen Kunden werben. Wenn ich Bankvorstand wäre, dann würde ich als Erstes zusehen, in digitale Zielgruppen zu investieren, um mir einen Wettbewerbsvorteil zu sichern – und gegebenenfalls weniger in Kultursponsoring oder Ähnliches zu stecken.

Welche Branchen wollen Sie darüber hinaus für Esports-Partnerschaften begeistern?

Auch bei den FMCGs gibt es noch eine ganze Reihe Marken, durch deren TV-Werbung wir beim Aufwachsen geprägt wurden. Das fängt bei Müller Milch an und geht über Ferrero Rocher bis zur Kinderschokolade oder der guten alten Ristorante Pizza von Dr. Oetker. Auch bei diesen Kategorien bin ich erstaunt, dass ganz viele Marken nicht eine deutlich aggressivere Digitalstrategie haben.

Die Esports-Community gilt als feinfühlig gegenüber Werbepartnern – im Guten wie im Schlechten. Müssen Sie daher aufpassen, nicht zu viele Partner und Sponsoren ins Ecosystem zu lassen?

Zum jetzigen Zeitpunkt stellt sich die Frage überhaupt nicht. Aber die Diskussion an sich ist in der Sportwelt ja nicht neu: Seit vielen Jahren gibt es Berichte, dass beispielsweise der Profifußball überhitzt und gesättigt sei – es heißt immer wieder, dass es zu viel Fußball-Content gibt. Die Wahrheit aber ist: Fußball wird immer populärer! Fans wollen immer lieber mehr Content, als weniger – dieses Prinzip gilt auch für Esports. Und ein Mehr an Content lässt sich nachgelagert entsprechend auch wieder an Partner vermarkten. Kurzum: Wir müssen für das Esports-Ecosystem permanent gute Produkte bauen, viel darüber reden und sie letztlich so anfassbar wie möglich machen.

Die USA und Asien gelten als die am weitesten entwickelten Esports-Märkte. Kann Deutschland im internationalen Vergleich auf lange Sicht mithalten?

Der deutsche Markt ist nicht schlecht positioniert. Das ist in meinen Augen häufig eine Fehlwahrnehmung. Vor allem in der Spitze sind deutsche Teams und Events vorne mit dabei. Wenn wir noch Nachholbedarf haben, dann sicherlich in der Breite.

Woran liegt das?

Vor allem an der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung und an einer Blockade-Haltung, die klassische Institutionen zum Teil noch haben. Es ist mitunter echt lächerlich, wie einige Vertreter aus traditionellen Sportarten und -verbänden Esports teilweise klein und schlecht reden.

Wünschen Sie sich mehr Rückendeckung aus der Politik?

Sowohl die Aufmerksamkeit als auch Support-Versprechen sind in der Politik relativ stark und positiv ausgeprägt. Bei der Umsetzung gibt es allerdings noch ein paar Schritte zu tun. Auch wenn die Corona-Krise letztlich wahrlich nicht viel Gutes für uns hatte: Es macht mir Hoffnung, dass sich beispielsweise Online-Konferenzen in kürzester Zeit in der Schule durchgesetzt haben. In Sachen Digitalisierung ist die Krise tatsächlich eher Segen als Fluch. Denn sie findet dadurch mittlerweile zum Glück in Bereichen statt, in denen sie zuvor politisch oder institutionell quasi ausgesperrt war. Einen ähnlichen Effekt erhoffe ich mir nachgelagert auch für die Anerkennung von Esports in Deutschland.

Serie zum Thema Esports

Dieser Artikel ist Teil einer aktuellen Serie auf absatzwirtschaft.de zum Thema Esports. Bisher sind zudem folgende Beiträge erschienen:

Einen ausführlichen Artikel über die Folgen der Coronavirus-Pandemie auf die Esports-Vermarktung lesen Sie in der kommenden Print-Ausgabe der absatzwirtschaft, die Sie hier bestellen können: https://www.fachmedien.de/absatzwirtschaft

Cases aus dem Esports-Sponsoring

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(he, Jahrgang 1987) – Waschechter Insulaner, seit 2007 Wahl-Hamburger. Studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften und pendelte zehn Jahre als Redakteur zwischen Formel-1-Rennstrecke und Vierschanzentournee. Passion: Sportbusiness. Mit nachhaltiger Leidenschaft rund um die Kreislaufwirtschaft und ohne Scheuklappen: Print, live, digital.