Prof. Schildhauer ist Gründer und wissenschaftlicher Direktor des Institute of Electronic Business. Im Oktober 2000 begann das Institut mit dem ersten universitären, europäischen Hauptstudiengang Electronic Business.
Herr Prof. Schildhauer, einer Studie der University of Massachusetts Dartmouth zufolge passen sich junge und aufstrebende Unternehmen weitaus schneller an den Einsatz von Blogs, Sozialen Netzwerken und Wikis an, als traditionelle große Unternehmen dies tun. Wird der Einsatz Sozialer Medien bald „kriegsentscheidend“?
SCHILDHAUER: Wer keine sozialen Medien nutzt, reagiert nicht auf diese neuen Kommunikationsformen und verspielt die Chancen und Möglichkeiten, die diese Medien bieten. Auch sogenannte traditionelle Unternehmen setzen mehr und mehr die neuen Instrumente der digitalen Kommunikation ein. Aktuelle Beispiele zeigen, dass diese Unternehmen Dienste wie Twitter, Crowdsourcing-Plattformen wie zum Beispiel jovoto.com und Blogmonitoring intensiv einsetzen.
Mit Sozialen Medien lässt sich Kommunikation unternehmensintern wie -extern neu gestalten. Wo sehen Sie die Potentiale?
SCHILDHAUER: Im Internet existieren Modelle, bei denen die Internetuser den Preis selbst festlegen. Es ergeben sich Veränderungen in der Kundenansprache, der Kundeninformation, bei den Kundenabschlüssen, aber auch im Rahmen von Kundenservices. Das Web-Monitoring ermöglicht, Informationen über Einstellungen und Bedürfnisse, Wünsche oder Kaufhintergründe von Kunden zu erhalten – live und direkt aus dem Internet. Auch haben die Unternehmen auf diese Art und Weise heute viel mehr die Gelegenheit, zeitnah und kontinuierlich Kundenmeinungen abzufragen, indem sie dem stattfindenden Dialog zuhören und Hinweise systematisch auswerten.
Auch die interne Unternehmenskommunikation scheint sich zu verändern.
SCHILDHAUER: Auf jeden Fall, im Bereich der internen Kommunikation können Unternehmen soziale Medien im Zuge des Employer Brandings zu Informationsgewinnung und -austausch unter Mitarbeitern nutzen. Mitarbeiterblogs und Unternehmensnetzwerke können die Mitarbeiterkultur befruchten. Sie können auch den fachlichen Austausch zwischen Zulieferern stärken und durch Soziale Medien stützen.
Sie nannten die Potentiale hinsichtlich der Kundenansprache. Was können Unternehmen hier bereits tun?
SCHILDHAUER: Menschen lernen voneinander und tauschen sich aus – auch über digitale Kanäle: Wie sich zeigt, vertrauen 83 Prozent den Meinungen von Freunden (Forrester Desearch). Und noch über 50 Prozent trauen Online-Meinungen/Bewertungen von Fremden. Gleichzeitig nimmt das Vertrauen in Werbung immer mehr ab. Marken und Unternehmen können hier Virale Botschaften platzieren – und damit eine authentischere und vertrauenswürdigere Kundenansprache aufbauen.
Sich also über Mund-zu-Mund-Propaganda einschalten?
SCHILDHAUER: Ja, die Macht der Mund-zu-Mund- Propaganda untergräbt den Stellenwert der Sender-Empfänger Kommunikation der klassischen Werbeansprache. Sie können sich aber auch in Social Networks und Blogs engagieren und User Generated Content Sites nutzen. Darüber hinaus sind Soziale Medien geradezu predästiniert, Kunden in Entwicklungsprozesse von Produkten und Dienstleistungen zu integrieren. Im Zuge der Open Innovation haben sich zahlreiche Methoden (Lead-User, Innovation-Communities) der Kundenintegration etabliert.
Wo sehen Sie Risiken?
SCHILDHAUER: Risiken entstehen dann, wenn sie zum Einen keine professionelle und systematische Kommunikation betreiben und die Kommunikation in den Social Web Plattformen nicht gut planen. Darüber hinaus haben viele Unternehmen Fehler in der Offline-Kommunikation begangen, die sie nicht einfach durch digitale Medien wieder wettmachen können. Der Wahlkampf von Barack Obama zeigt, dass gerade der Aufbau einer (Personen)Marke nach wie vor auch über klassische Medien wichtig ist – davon profitiert dann auch die Online-Kommunikation. Unternehmen dürfen nicht in der Online Kommunikation alleine das Allheilmittel sehen.
Was würden Sie Unternehmen raten, die sich den neuen Medien erst jetzt zuwenden?
SCHILDHAUER: Kommunikation muss authentisch und glaubwürdig sein. Klassische Werbekommunikationsstrategien funktionieren nicht. Unternehmen dürfen die Macht der vernetzten User nicht unterschätzen und dieses Medium unbedacht nutzen. Negative Meldungen und Informationen können sich im Internet in kürzester Zeit ausbreiten und eine kritische Masse erreichen. Generell ist es wichtig, dass Unternehmen die Menschen, die sich als Kunden äußern, in Bezug auf ihre Identität und Daten schützen und die registrierten Daten sehr vorsichtig nutzen. Dass Menschen das Vertrauen in diese Sicherheiten verlieren, ist eines der größten Risiken für die neu entstehende Form der Kundenkommunikation.
Wie findet ein Unternehmen die für sein Produkt marketingrelevanten virtuellen sozialen Gemeinschaften? Sollte es diese gezielt aufbauen? Oder zum Beispiel in Foren suchen und finden? Empfiehlt es sich, Schwerpunkte zu setzen?
SCHILDHAUER: Zunächst ist hier zwischen Special Interest Communities und Common Interest Communities zu unterscheiden. Bei Special Interest Communities ist der kleinste gemeinsame Nenner ein bestimmtes Merkmal (Thema, Interesse etc), das die User dazu bewegt, sich zusammenzuschließen. Dies kann eine kleine Gruppe von Menschen sein, die zum Beispiel die gleiche Vorliebe für bestimmte Automarken hat oder gerne ein bestimmtes Urlaubsland bereist. Die intrinsische Motivation sich in dieser Community zu beteiligen, ist sehr hoch. Für Unternehmen stellen die thematischen Ausrichtungen solcher Special Interest Communities eine Möglichkeit dar, entsprechende Netzwerke zu identifizieren.
Durch Suchen und Finden?
SCHILDHAUER: Am Markt haben sich Unternehmen etabliert, die das Internet nach Themen durchsuchen und clustern können. Diese Tools liefern Antworten auf die Frage, wer im Digitalen Raum spricht, welche Themen diskutiert werden und wo sich Meinungsführer aufhalten. Daraus können Unternehmen wertvolle Erkenntnisse über Zielgruppen, Markenwahrnehmung und Kundenwünsche in Erfahrung bringen sowie Trends ableiten.
Unternehmen stehen möglicherweise auch vor der Entscheidung, eine eigene Community aufzubauen.
SCHILDHAUER: Eine eigene, nachhaltig funktionierende Community zu etablieren, ist sicherlich ein komplexes und schwierigeres Unterfangen. Die Entscheidung ist auch davon abhängig, welche Rahmenbedingungen, zum Beispiel finanzieller Art, für das Etablieren einer Community zur Verfügung stehen. Was Sie auch nicht außer acht lassen sollten: Es ist möglich, dass sich eine Community, die beispielsweise eine „Spezielle Marke für Basketballschuhe“ aufbaut, in eine thematische Richtung entwickelt, die unter Umständen nichts mehr mit der Marke zu tun hat.
Damit ist das Aufspüren bestehender Communities der einfachere Weg, an marketingrelevante Netzwerke zu gelangen?
SCHILDHAUER: Bei der Fülle von Communities, die im Netz existieren, werden sich die meisten Unternehmen thematisch wiederfinden. Wir am Institute of Electronic Business empfehlen unseren Kunden zunächst, ein Web-Monitoring durchzuführen. Die Ergebnisse sind häufig sehr aussagekräftig und können unter anderem dazu führen, dass sich Zielsetzungen und bisherige Annahmen über Kunden ändern.
Das Monitoring, Kontakt- und Informationsangebote schöpfen die Chancen der Sozialen Medien nicht aus. Welche Möglichkeiten haben Unternehmen, mit ihren Kunden zu interagieren und diesen Prozess effektiv zu gestalten?
SCHILDHAUER: Grundsätzlich sollten Unternehmen sich systematisch überlegen, in welchen Stufen sie die neuen Instrumente der Digitalen Kommunikation einsetzen und nicht versuchen, alle Möglichkeiten auf einmal auszuschöpfen. Es ist ratsam, klein zu beginnen und beispielsweise zunächst einen Blog aufzusetzen. Der Einsatz der Instrumente ist iterativ und ist, einmal aufgesetzt, kontinuierlich zu betreiben. Einmal inszenieren und dann abwarten wird nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen. Grundsätzlich hängt die Kundenkommunikation über digitale Medien immer von den Zielgruppen, der Zieldefinition und dem richtigen Einsatz der Technologie ab.
Um es zugespitzt zu formulieren: Muss Tempo Twittern?
SCHILDHAUER: Von „müssen“ kann sicher nicht die Rede sein. Ich persönlich würde bei dieser Frage Tempo zuerst empfehlen, eine genaue Analyse der Kommunikationsziele und der in Twitter aktiven Zielgruppe zu machen. Genauso wie man es auch bei der Wahl anderer Kommunikationskanäle und –instrumente tun würde. Ich würde allerdings auch zu äußerster Vorsicht raten. Wenn sich Tempo dann dafür entscheiden sollte, wäre zu empfehlen, dies über eine Person zu tun, die authentisch und glaubwürdig ist. Platte PR-Kommunikation und Informationsstreuung markieren User sehr schnell als Informationsmüll. Das Unternehmen sollte sich auch auf verschiede Szenarien vorbereiten und sich überlegen, wie es reagiert, wenn das Twittern außer Kontrolle gerät oder negative Auswirkungen mit sich bringt. Das Gespräch führte Irmtrud Munkelt