Von Frank Puscher
Die Marketingverantwortlichen von Nikon Imaging Europa waren recht überrascht, als sie die Ergebnisse einer Tiefenanalyse zur Markenwahrnehmung vorgelegt bekamen. „Wir sahen uns immer als Anbieter von sexy Endkundenprodukten. Unser Unternehmensauftritt sollte cool und zugänglich sein, gleichzeitig wollten wir uns mitten im hochgradig emotionalen Thema Digitalbild positionieren“, erklärt Marketing
Manager Richard Wessen.
Die Kunden waren ganz anderer Auffassung: Nikon sei hochgradig professionell, aber vor allem unnahbar und distanziert. Der Slogan „At the heart of the image“, passt nicht. Das Ergebnis entstammt einer Analyse aus Kundenfeedback über unterschiedlichste Kanäle hinweg. „Das Problem ist,
dass die unterschiedlichen Kontaktpersonen ihre Erkenntnisse nicht miteinander teilen. Sie leben in Silos“, analysiert Wessen das Problem.
Die Zusammenführung der Kundenerfahrungen aus unterschiedlichen Kontaktszenarios zwischen Kunde und Unternehmen ist die Aufgabe, der sich Customer Experience Management verschrieben hat. Im Idealfall soll der jeweils nächste Kontaktpartner auf Unternehmensseite mit dem gesamten Wissen über die Kundenhistorie ausgestattet sein und entsprechend präzise auf die Anforderungen des Kunden reagieren können. Mehr noch: Das Customer Experience Management versucht Vorhersagen über künftige Bedürfnisse zu treffen und ermöglicht dem Unternehmen, proaktiv auf seinen Kunden zuzugehen und ihn mit hoher Servicequalität zu überraschen. „In einer Zeit, in der die Innovationsvorsprünge auf Produktebene immer schneller verschwinden und die Preistransparenz dank globaler Vernetzung praktisch absolut ist, entscheidet die Servicequalität über die positive Kundenerfahrung und beeinf lusst Business-relevante Faktoren, wie die Kaufwahrscheinlichkeit, die Warenkorbgröße oder die Wahrscheinlichkeit der Weiterempfehlung“, meint Greg Gianforte, Gründer von Rightnow, einem Anbieter von CEM-Software. Alexander Gerber, Geschäftsführender Gesellschafter von Innokomm, ergänzt eine weitere sich verändernde Umgebungsvariable: „Die Kunden haben heute den Wunsch, sich einzubringen, und das muss auch gehört werden“.
Auch Professor Matthias Gouthier vom Lehrstuhl für Dienstleistungsmarketing an der European Business School stellt fest: „Es ist eine starke Unzufriedenheit mit Customer Relationship Management da. Wir müssen die emotionale Ebene integrieren. Es geht nicht um die Zufriedenheit, sondern um die Begeisterung. Wir müssen den Kunden etwas mehr anbieten, als sie erwarten. Über Zufriedenheit alleine erzeugen wir keine Loyalität mehr.“ Tatsächlich hat sich die Idee des Customer Relationship Managements (CRM) bereits vor zehn Jahren einem ähnlichen Ziel verschrieben. Große Softwarehäuser wie Oracle oder IBM entwickelten mehr oder weniger proprietäre Lösungen zur internen Datenaggregation.
„Der Unterschied zwischen CEM und CRM liegt einerseits in der Datenqualität. Wir können heute auch qualitatives Feedback, also Kritik oder Lob, erheben und vor allem bei Kritik eine aktive Kontaktaufnahme zum Kunden auslösen“, erläutert Gianforte. „Andererseits macht das SaaSModell(Software as a Service, Anm. d. R.) den Einstieg in das Thema viel einfacher und preiswerter.“
Die Studie von Sapient und OC&C bescheinigt Ernsting’s Family die höchste Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit.
60 Prozent der Kunden von Rightnow beginnen ihre CEMAktivitäten mit kleinen isolierten Prozessoptimierungen, vor allem im Bereich Support und Contact Center. Erst wenn die Maßnahmen Erfolg zeigen, werden die Budgets für CEM erhöht. „In den ersten drei Jahren machen unsere Neukunden im Durchschnitt sechs bis sieben Projekte.“
Der potenziellen Probleme bei der Implementierung von CEM ist sich auch Gunnar Klauberg bewusst. Der CEMSpezialist bei Adobe Systems rückt den B-to-B-Aspekt in den Vordergrund, nämlich die Fütterung der Systeme mit Daten sowie die Nutzung der CEM-Berichte seitens der einzelnen Mitarbeiter, vor allem wenn es sich um analoge Touchpoints handelt. „Unser Ziel muss es auch sein, den Mitarbeitern ein Frontend zur Verfügung zu stellen, mit dem das Arbeiten mehr Spaß macht. Wenn das Wissen der Mitarbeiter an den analogen Touchpoints nur in ihren Köpfen bleibt, haben wir ein Problem. Das muss auch von der Geschäftsleitung getrieben werden.“ Aus Kundensicht soll CEM ein möglichst stringentes Erlebnis ermöglichen. Gianforte sieht fünf aktuelle Megatrends, die die Notwendigkeit der Verbesserung der Kundenkommunikation zwingend nach sich zieht. Erstens werden die klassischen Kommunikationskanäle in ihrer isolierten Erscheinungsform verschwinden. Die Kunden nutzen unterschiedliche Kontaktszenarios und erwarten immer stärker, dass die Unternehmen als Ganzes darüber im Bilde sind. So ist eine schlechte Erfahrung („User-Experience“), wenn Kunden sich wiederholt gegenüber einem Unternehmen legitimieren müssen oder ihr Problem immer wieder von Neuem vortragen.
Zweitens muss die Kundenkommunikation auf mögliche unterschiedliche Szenarien und vor allem Eingabegeräte reagieren können. Wenn ein Nutzer sich mit dem Smartphone von unterwegs meldet, sollte ihm der Supportmitarbeiter keine Videokonferenz zur Lösung seines Problems vorschlagen.
Analyseergebnis: Die Binnensicht von Nikon stimmt nicht mit der Kundenwahrnehmung überein, der Slogan wirkt aufgesetzt.
Gianforte sieht drittens eine sich ändernde Struktur der unterstützenden Dienstleistung erwachsen. Die handelnden Agenten arbeiten von jedem beliebigen Ort aus und virtuelle Agenten werden nahtloser in Kontaktsysteme integriert. Die Herausforderung für die CEM-Software ist, die richtige Zuteilung der eingehenden Kontaktsignale zu leisten, basierend auf den Lösungsmöglichkeiten der Agenten.
Viertens verlangt Gianforte, dessen Firma aller Voraussicht nach von Oracle aufgekauft werden wird, dass die Contact-Center lernen, Informationen aus Social Media zu verarbeiten, da hiermit die qualitative Lücke in der Echtzeitdatenanalyse geschlossen werden kann. Fünftens erwartet Gianforte, dass das Konzept der Personalisierung über E-Commerce hinausgeht, und sich im Bereich Service und Marketing Bahn bricht. Die Grenzen zwischen Marketing und proaktivem Service verschwimmen zusehends.
Ein interessantes Beispiel der Implementierung zeigen die Spendensammler von Compassion. Auf der Suche nach jüngeren Zielgruppen setzen die Amerikaner auf Facebook. Da eine Reihe von Fragen seitens potenzieller Kunden immer wieder auftaucht, band man kurzerhand das Wissen aus dem Support in Form einer Facebook-App an. Geschäftsführer Richard Atterton berichtet von einem signifikanten Rückgang telefonischer Anfragen. „Die Qualität der Kontakte hat zugenommen, weil die grundlegenden Fragen durch die Knowledgebase bereits beantwortet werden.“
Die Bedürfnisanalyse von Schwarzkopf ergab: es geht um Themen, nicht um Marken und Produkte.
Eine wachsende Rolle in diesem Umfeld werden mobile Kanäle einnehmen. In der Regel versagen hier die Selfservice-Systeme von Websites, weil sie schwer navigierbar sind. Dem lässt sich durch verbesserte Suchsysteme abhelfen, etwa durch semantische Suchkonzepte, die nicht die Knowledgebase als Ganzes im Volltext durchforsten, sondern eine Auswahl der wichtigsten und wahrscheinlichsten Supportfälle, die von
einer Redaktion ausgewählt und auf bereitet werden.
Genau diesen Weg wählte The Trainline, ein britischer Verkäufer von Bahntickets. In die mobile App sind gleich mehrere direkte Supportkanäle integriert, um die Kunden bei komplexeren Reisebuchungen zu unterstützen, selbst wenn sie sich bereits im Zug befinden. Der Nutzer hat die Wahl zwischen Chat, E-Mail, Knowledgebase und natürlich Telefon. Fünf Prozent der direkten Buchungen stammen bereits aus der App. David Yap, bei Rightnow verantwortlich für die Positionierung der mobilen Implementierung, zeigt sich überrascht: „Es ist erstaunlich, wie wenige Apps heute eine Supportfunktion besitzen. Das Interessante ist doch, dass die Nutzer über die App gleichzeitig einiges über den Benutzungskontext verraten und das sind wertvolle Informationen.“ Yaps ehrgeizigstes Projekt derzeit ist allerdings bei Twitter angesiedelt. Unter dem Hashtag #help_Firmenname möchte David Yap einen internationalen Standard für Supportanfragen via Twitter etablieren.
Die Mehrzahl aktueller CEM-Beispiele widmet sich dem Thema Customer Care und -Service. Hier ist der RoI einer Implementierung recht leicht zu messen. Eine präzisere Hilfe kann die Kontakthäufigkeit verringern und somit Kosten sparen. Eine effiziente Allokation von Supportanfragen an alle Agenten sorgt für eine gleichmäßige Auslastung und kann somit die Mitarbeiterzahl in diesem Bereich reduzieren. Dennoch sehen die Experten Potenzial in allen Unternehmensbereichen, auch in Marketing und Vertrieb. Die neuseeländische Post nimmt in den letzten Jahren stark abnehmende Briefzahlen wahr bei gleichzeitig steigenden Zustellkosten, dank E-Mail. Eine schwierige Situation, der sich viele ehemalige Staatsunternehmen gegenübersehen. Mit Hilfe gezielten Monitorings in Social Media und mit Umfragen bei der eigenen Kundschaft fand man heraus, dass die Zunahme der digitalen Kommunikation neue Probleme mit sich bringt, etwa den mangelnden Zugriff auf reale, papierne Post, während man sich zum Beispiel auf Geschäfts- oder Urlaubsreise befindet. Daraus entwickelte die NZ Post einen Zustellservice unter dem Namen U-Connect. Statt die Post in den Briefkasten zuzustellen, wird sie geöffnet, gescannt und an die hinterlegte Mailadresse weitergeleitet. Der Kunde hat die Möglichkeit, auch per E-Mail zu antworten, und die NZ Post verarbeitet die Antwort wieder zu einem echten Brief.
Ein anderes schlagendes Beispiel für den Wandel in der Kommunikationsstrategie liefert hierzulande Schwarzkopf. In Customer-Journey-Analysen stellten die Haarpflegespezialisten fest, dass die Kunden in Social Media und bei Google recht intensiv über Themen der Haarpflege diskutierten. „Wir haben festgestellt, dass in Deutschland jeden Monat 16 Millionen Suchanfragen zum Thema Haare gestellt werden und nur die wenigsten beschäftigen sich direkt mit Marken und Produkten“, stellt Frank Horn, Marketing Director International bei Henkel Cosmetics fest. Schwarzkopf entschied sich dazu, die komplette Website dahingehend umzubauen, dass redaktionelle Artikel zu Haarthemen im Vordergrund stehen. Produkte tauchen erst in der dritten, vierten Ebene auf. Mit Erfolg: Beim Thema Haarfarbe besetzt Schwarzkopf derzeit die ersten beiden Treffer im generischen Suchindex von Google. Für Nikon beschreibt Richard Wessen, dass man in den letzten Jahren eine ganze Zielgruppe sträf lich außer Acht gelassen habe, weil man etablierte Segmentierungen der Vergangenheit schlicht fortschrieb.
Zu den Nutzern von Schnappschusskameras, den Amateuren mit Interesse an digitalen Spiegelref lexkameras und den von Nikon vorzüglich behandelten Profis gesellt sich eine Gruppe ambitionierter und vor allem wohlhabender Aufsteiger, die Interesse an Profiausrüstung hat, aber keinen Bedarf an den professionellen Services für Berufsfotografen. „Und weshalb sollten wir bei vier Segmenten stehenbleiben. Vielleicht brauchen wir zehn“, so Wesson. Die Profilierung der Segmente überlässt Nikon weitgehend den Nutzern selbst. Derzeit ist eine Anwendung in Arbeit, mit der der Kunde seine fotografische Entwicklung über mehrere Jahre planen kann. Mehrwert aus Sicht der Kunden ist die Zukunftssicherheit aktueller Investments in Kameras und Objektive. Mehrwert für Nikon: eine Steilvorlage für künftige Produktankündigungen zum richtigen Zeitpunkt.
Auf die unmittelbare Umsatzwirksamkeit der Customer Experience macht auch eine aktuelle Studie von Sapient Nitro und der Strategieberatung OC&C aufmerksam: Unternehmen, denen es gelingt, ein klares, konsistentes Bild über die Kanäle hinweg aufzubauen, haben bessere Chancen auf mehr Umsatz. „Ein gutes Beispiel ist Ernsting’s Family“, meint Dr. Gregor Enderle, Partner bei OC&C. „Kaum ein anderes Unternehmen hat ein derart klar umrissenes Profil On- wie Off line. Das Leistungsversprechen ist ganz klar, und dadurch ergibt sich eine loyale Zielgruppe. Die Kunden wissen, was sie von dem Onlineshop zu erwarten haben, daher sind Kaufwahrscheinlichkeit und Weiterempfehlungsrate sehr hoch.“
Abgesehen von Ernsting’s haben es Multichannel-Anbieter offensichtlich aber schwer, gegenüber den sogenannten Pure Plays zu bestehen. Enderle: „Multichannel-Unternehmen sind Gefangene ihrer Stärken und Schwächen im Kerngeschäft. Online hängen sie hinter den Pure Plays zurück. Die klare Positionierung ist hier das A und O“. Damit wird klar, dass die Implementierung von CEM alles andere ist, als ein Schnellschuss. Ob der strategischen Dimension von CEM warnt Alexander Gerber ausdrücklich vor der zu kurzfristig gedachten RoI- Betrachtung: „CEM ist eine Investition in die Kunden von morgen. Ich glaube, es ist bereits ein Bewusstsein dafür da, dass sich Marketing verändern muss.“ ←
→ Fünf Beispiele für den RoI von CEM
Im aktuellen Frühstadium der CEMImplementierung existiert allerhand Unschärfe, vor allem hinsichtlich der Frage, welchen Mehrwert die oft kostspielige Einrichtung von CEM-Werkzeugen mit sich bringt. Folgende fünf Beispiele können eine Anregung für eine tief greifende RoI-Analyse bieten.
1. Verlorene Kunden zurückholen
CEM soll den Kommunikationskreislauf zwischen Unternehmen und Kunden schließen. Macht ein Kunde unmittelbar schlechte Erfahrungen, sind unspezifische Incentives selten geeignet, ihn als loyalen Kunden zurückzugewinnen. Es bedarf der expliziten Reaktion mit Bezugnahme auf die konkreten Probleme des Kunden mit dem Unternehmen. So könnte ein Hotel, das eine schlechte Bewertung eines Gastes erhalten hat, unmittelbar nach Eintreffen der Bewertung den direkten Kontakt zum Gast suchen, sich für die schlechte Erfahrung entschuldigen und eine Kompensation in Aussicht stellen.
2. Bestandskunden als Wachstumstreiber
Die Identifikation besonders verbundener Stammkunden ermöglicht es den Unternehmen, diese aus dem Standard-Kundenbindungsprogramm heraus zu heben. Analysen der amerikanischen CEM-Spezialisten von Medallia zeigen, dass die echten Markenfans 15 Prozent mehr ausgeben. Ein Wert, der auch auf künftiges Verhalten projizierbar ist.
3. Kosten der Neukundenakquise reduzieren
Positive Mundpropaganda, ausgelöst durch die überdurchschnittlich guten Erfahrungen von Stammkunden, reduziert den Aufwand in der Neukundengewinnung erheblich, weil die intensive Vernetzung der Nutzer via Social Media Schneeballeffekte erzielen kann. CEMParameter
wie zum Beispiel die Weiterempfehlungswahrscheinlichkeit dienen dazu, die entsprechenden Meinungsführer zu bestimmen.
4. Personalrotation verringern
Ein gerne übersehener Ansatz ist nach innen gerichtetes CEM. Auch die Erfahrungen der Mitarbeiter mit einem Arbeitgeber bilden sich auf die Wahrscheinlichkeit der Weiterempfehlung und auf die Loyalität ab. Mitarbeiter, deren Probleme ernst genommen und zeitnah adressiert werden, bleiben länger im Unternehmen und bringen höhere Leistung.
5. CEM ist günstiger als Marktforschung
Die Marktforschung sucht aggregierte Antworten auf spezifische Fragestellungen über eine gewisse Menge an Fallzahlen
hinweg. Das Prinzip ist reaktiv, verallgemeinernd und weniger operabel als Software-basierte CEM-Verfahren, die eine unmittelbare Reaktion in
Echtzeit ermöglichen. Die kanalisierte Herangehensweise im CEM reduziert den Aufwand zum Infrastrukturaufbau in Sachen Kundenfeedback. Gute CEMSoftware findet das Feedback dort, wo es auftritt.